Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
seine einzige Chance, seinen Kollegen zu enttarnen. Doch er ergriff sie nicht. Kariannes Leben hing davon ab, dass er schwieg. Stattdessen schickte er eine SMS an den Mann, der sie gefangen hielt, und teilte ihm mit, dass er den Weg bis zum Ende gefahren sei. Es dauerte eine Weile, bis die Rückmeldung kam. Niklas nahm an, dass das zur Strategie des Täters gehörte.
Fahr die Straße weiter. Nach knapp hundert Metern kommt ein kleiner Bach. Der Pfad geht am rechten Bachufer weiter. Fünfhundert Meter später liegt ein großer Stein auf der rechten Seite. Melde dich, wenn du dort bist.
Er stieg aus dem Auto. Der Herbst war immer noch mild – vier, fünf Grad über Null, schätzte er. Er spürte weiterhin das Stechen im Bauch, aber das waren wohl nur noch die Nachwirkungen des Gifts, das seinen Körper nun hoffentlich langsam verließ. Bevor er die Tür zumachte, griff er noch einmal ins Auto, um das Handschuhfach zu öffnen und die Handschellen herauszunehmen. Er wollte die Anweisungen auf jeden Fall befolgen. Vor nicht allzu vielen Stunden hatte er sich noch gegen den Gedanken gesträubt, Karianne eine Niere zu spenden, jetzt war er bereit, sein Leben für sie zu geben.
Der Bach war gerade mal zwei, drei Meter breit, und er balancierte über ein paar große, vom Wasser geglättete Steine ans andere Ufer. Das Wasser war kaum tiefer als einen halben Meter, doch er wollte so lange wie möglich trockene Füße haben. Der Weg ging nicht nur nach rechts, es ging auch bergauf, erst ganz leicht, dann fühlbar steiler, und er musste sich mehrmals abstützen, weil er keinen festen Halt unter den Füßen fand. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Schafspfad, der nur deswegen noch zu sehen war, weil ihn ab und zu ein Wanderer benutzte, und der matschige Boden zeugte davon, dass auch das Regenwasser gern diesen Weg nahm. Niklas blieb stehen, um ein wenig zu verschnaufen. Kein Laut außer seinem eigenen keuchenden Atem. Keine Autos in der Ferne, keine gedämpften Geräusche von irgendwelchen Siedlungen, nur leichtes Rauschen in den Bäumen. Er war allein.
Er hielt sich abseits des Pfades, wo der Untergrund weniger rutschig war, und bald erreichte er den Stein, den man ihm zuvor beschrieben hatte. Wie eine dunkle Wand erhob er sich zu seiner Rechten. Niklas sah sich um. Die Vegetation war spärlicher geworden, die Bäume kaum mehr als Gestrüpp. Er versuchte, den Blick zu schärfen und irgendwelche Bewegungen in den Schatten auszumachen, doch wenn sein Kollege ihn wirklich beobachtete, dann gelang es ihm ganz ausgezeichnet, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Niklas schickte die vereinbarte SMS , und diesmal kam die Antwort schneller.
Folge dem Pfad schräg nach links, über den Sumpf und überquere den Hügel auf der anderen Seite. Dort kommt wieder ein Pfad. Bieg rechts ab und geh weiter, bis du die Hütte erreichst. Bleib auf dem Platz vor der Hütte stehen. Keine Abstecher!
Eine Hütte? Hatte sein Kollege eine Hütte in den Bergen? Wäre er anders vorgegangen, wenn er das gewusst hätte? Wohl kaum. Ihm war jetzt nur wichtig, den Platz mit Karianne zu tauschen. Danach mochte kommen, was wolle. Er konnte den Weg nicht sehen, der ihm beschrieben worden war, doch er tastete sich weiter und folgte einfach immer der Öffnung im Gestrüpp. Mehrmals musste er sich bücken, um sich keine Kratzer im Gesicht zu holen, und dann gab plötzlich der Boden unter ihm nach und schien seine Füße nach unten zu saugen. Kurz befiel ihn Panik, während er sich aus dem schlammigen Boden befreite, und ein paar Sekunden sah er schon Schreckensbilder vor seinem inneren Auge, wie er im bodenlosen Sumpf versank. Mittlerweile war er ganz durchnässt von dem moorigen Wasser, aber er folgte dem Pfad weiter. Er begann schon zu befürchten, dass er sich verlaufen hatte, da tauchte die Hütte endlich vor ihm auf. Als er stehen blieb, war er sich sicher, dass er beobachtet wurde. Die Hütte wirkte alt und hatte kaum mehr Grundfläche als eine durchschnittlich große Küche. Wahrscheinlich eine Jagdhütte, dachte er.
»Die Handschellen.« Die Stimme war bekannt, aber doch irgendwie anders.
Niklas hielt die Handschellen in die Höhe.
»Zieh die Jacke aus.«
Er tat, was ihm befohlen wurde, und schmiss die Jacke auf den Boden.
»Jetzt das Handy.«
Er warf das Handy hinterher.
»Krempel die Ärmel von deinem Hemd hoch.«
Noch immer konnte er seinen Kollegen nicht sehen, doch die Stimme kam irgendwo von der Hütte.
»Jetzt drehst du dich um
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