Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
nicht wüsste, was er tut. Es ist sein Lebensinhalt, einen Streifen Land vor Nyheim umzugraben, ungefähr sechs Kilometer landeinwärts …«, Lind zeigte vage in die Luft, »… und bis runter zum Strand bei Storvollene. Und wenn ich umgraben sage, meine ich umgraben. Mindestens einen halben Meter tief. An manchen Stellen geht er auch tiefer. Kein Quadratmeter wird ausgespart, wenn er nicht gerade aus kompaktem Fels besteht. Natürlich ist das Problem mehrfach diskutiert worden – ob man nicht eingreifen und ihm das Ganze einfach verbieten sollte.« Lind zuckte mit den Schultern. »Wir von der Polizeistation haben versucht, es ihm auszureden, auch die Leute vom Gesundheitsamt und der Bürgermeister, aber das war alles vergeblich. Und der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass er hinterher alles wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt, da kommt jedes Grasbüschelchen wieder an seinen Platz wie in einem Riesenpuzzlespiel.«
»Aber wonach gräbt er denn?«
»Da fragst du was …« Lind trat ans Fenster und sah dem Wanderer nach, der gerade die Straße überquert hatte und querfeldein davonstapfte. »Eigentlich ist das wirklich eine traurige Geschichte. Vielleicht macht sich deswegen auch keiner über ihn lustig. Die meisten denken sich wohl ihren Teil, schütteln im Stillen den Kopf, aber keiner macht Witze auf seine Kosten. Dafür sind seine Wunden zu tief.«
Niklas konnte nicht anders, er hatte Mitleid mit dem armen Kerl, der so beharrlich an seiner Lebensaufgabe festhielt. Er streckte sich ein wenig und erhaschte noch einen Blick auf die gebeugte Gestalt, die um einen Hügel bog und verschwand.
»Vor fünfundzwanzig Jahren ist seine Schwester verschwunden. Sie verließ ihr Zuhause bei Nyheim, um dann nie wieder gesehen zu werden. Sie hatte vorgehabt, zum Strand bei Storvollene runterzugehen, eine Strecke von fast sieben Kilometern. Sie war wohl um die vierzehn, fünfzehn damals. Leider dauerte es ein paar Tage, bis man eine Suchaktion startete, ich weiß auch nicht warum. Es war eine ärmliche Familie, aber es ist nicht bekannt, ob sie so lange mit der Vermisstenmeldung zögerten oder ob man sie zunächst nicht ernst genommen hat. Wie dem auch sei, man suchte das Gelände entlang dieser Strecke in beide Richtungen ab, aber das Mädchen war wie vom Erdboden verschwunden. Die Familie lebte natürlich immer noch in der Hoffnung, dass sie eines Tages wieder auftauchen würde, aber ich glaube, es dauerte keinen Monat, bis der Bruder anfing, rastlos immer wieder diese Strecke abzulaufen, hin und her. Deswegen auch sein Name. Erst als er anfing zu graben, begriffen die Leute, dass er befürchtete, seine Schwester könne ermordet worden sein.« Lind strich sich mit der Hand durch das schüttere Haar, das ein verfrühter Alterungsprozess langsam aber sicher ausdünnte. »Eines vorweg: Ich glaube, die meisten dachten, dass das Mädchen in eine Felsspalte gefallen oder einen Abhang hinuntergestürzt sein musste. Doch da sie nie gefunden wurde, tippte man schließlich eher darauf, dass sie einfach ihre kleine gestörte Familie verlassen hatte. Und wenn dem so war, dann kann ich sehr gut verstehen, dass sie ihren Status als Verschwundene aufrechterhalten will. Zu was sollte sie überhaupt zurückkehren? Die Eltern sind tot, der Bruder ein buddelnder Trottel, und die Schwester, die Älteste der Geschwister, kann man wohl guten Gewissens als entwicklungsgestört bezeichnen. Übrigens wohnt sie nicht weit von hier und wird täglich von einem mobilen Pflegedienst betreut.«
»Das ist ja eine Geschichte.« Niklas sah den Mythos vom harmlosen ländlichen Verbrechen schon wieder dahinschwinden.
»Vor allem ist es eine traurige Geschichte. Und die wird erst zu Ende sein, wenn der Wanderer mal abdankt.«
5
Bodø
Rino Carlsen beugte sich über seine Mindmap, auf der die Verzweigungen noch recht spärlich waren. Die Jungen hatten sich durchaus angestrengt, zum Teil mit einem ziemlich deftigen Vokabular, doch im Grunde hatten sie nicht viel zu sagen. Bis jetzt war der Tatort definitiv das Interessanteste. Er hatte auch den Untergang des Hurtigruten-Schiffes von 1940 auf seiner Skizze notiert, wenn auch vorerst nur in Klammern.
Abermals wurde sein Blick von den Kokos-Schokoküssen und der Colaflasche angezogen, die er strategisch geschickt in der Ecke des Schreibtischs positioniert hatte. Umgekehrte Strategie hieß so was. Kill sugar before it kills you. Ein geradezu revolutionärer Effekt, wenn man den
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