Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Haltung, mit den Händen über dem Kopf, blieb Niklas stehen. Aus dieser Lage konnte er sich unmöglich selbst befreien.
»Na, siehst du, das ging doch im Nu.«
Da begann Niklas zu dämmern, was hier eigentlich passierte. Lind hatte ihn hinters Licht geführt, wie er ein ganzes Dorf fünfundzwanzig Jahre lang hinters Licht geführt hatte. Er hatte nie die Absicht gehabt, mit Karianne durchzubrennen oder sie sonstwie in Gefahr zu bringen – er hatte diese Geiselnahme nur inszeniert, um den einzigen Menschen anzulocken, der sie retten konnte. Denn es wurde langsam dringend, und Organspender waren Mangelware. Also war ein freiwilliger Spender ihre einzige Chance. Und da die Merkmale von Niklas’ Gewebeproben mit ihren übereinstimmten, war er ihre einzige Chance, und damit auch Linds einzige Chance.
»Das hättest du nicht zu tun brauchen. Ich war bereit.«
Lind sah ihn streng an. »Du warst alles andere als bereit, man sah dir deine Zweifel schon von weitem an. Ich hingegen bin seit zwanzig Jahren bereit. Weißt du, ich habe mir Zugang zu ihrer Krankenakte verschafft und auf eigene Initiative eine Gewebeprobe von mir machen lassen, nur zur Sicherheit. Das nenne ich bereit sein.«
Niklas weigerte sich zu glauben, was er da hörte.
»Leider konnte ich ihr keine Niere spenden, ihr Körper hätte sie abgestoßen.« Plötzlich schoss Linds Hand vor, und er packte Niklas am Kinn. »So was nennt sich echte Liebe – dass sich jemand ohne zu zögern die Hand für seine Liebste abschneiden würde, wenn es nötig wäre. Aber du, du hast nie gesehen, wie sie litt, hast nie gehört, wie sie ihr Leiden in Worte fasste, du hast dich gesträubt, ein paar lächerliche Stunden Narkose in Kauf zu nehmen. Stattdessen bist du im Selbstmitleid ertrunken und hast sie ihre ganze Angst allein tragen lassen.«
»So war es nicht …«
»Genau so war es!«, rief Lind und drückte so fest zu, dass Niklas die Kiefer knackten. »Also warst du auch nicht bereit. Bis jetzt.«
»Ich …«
»Halt die Klappe.« Lind blickte auf die Uhr. »Wir haben noch eine Dreiviertelstunde.« Er drehte sich um und klappte den Deckel einer Kiste auf. Man hörte das Geräusch von Metall auf Metall.
»Du hast versucht, den Verdacht auf Reinhard zu lenken«, sagte Niklas.
Lind schien sich ein wenig beruhigt zu haben. »Das war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Im Grunde dachte ich nicht, dass mir jemals ein Mensch auf die Spur kommen würde, aber sicherheitshalber habe ich ein paar falsche Fährten gelegt. Für den Fall, dass tatsächlich jemand das Motiv entdecken sollte, wäre der Verdacht sofort auf Reinhard gefallen. Deswegen habe ich ein bisschen nachgeholfen. Die Puppen hab ich gratis dazugekriegt, und das mit den Kleidern war so gut, das
konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Als wären alle guten Mächte auf meiner Seite. Ist dir eigentlich aufgefallen, dass die Opfer in eine bestimmte Richtung zeigten?«
Niklas versuchte zu nicken.
»Respekt, nicht schlecht. Das hätte ich nicht gedacht. Dafür war ich so gut wie sicher, dass du das mit den Krallenspuren rausfindest.«
»Karianne hatte den Luchs schon im Haus, bevor du Ellen Steen überfallen hast.«
»Verschlossene Türen haben mich noch nie aufgehalten, auch nicht in baufälligen Schuppen.«
Lind war bei ihnen gewesen. Während Ellen Steen schwer verletzt am Strand lag, hatte er ihr Blut auf die Luchskrallen geschmiert.
»Aber warum hast du ihn vergiftet?«
»Nur um wirklich sicherzugehen, dass ihr nach Norden zieht. Korneliussen war schon mal unschädlich gemacht, die Stelle war frei, und ich wusste, wenn der Papa ernstlich krank wird, würde es kein Zögern mehr geben.«
»Und wenn er nun gestorben wäre? Oder wenn Korneliussen gestorben wäre? Wie viele hättest du denn noch ins Grab schicken wollen?«
Lind lächelte. »Wie viele hättest du ins Grab schicken wollen, um Karianne am Leben zu erhalten? Keinen? So wie ich dich kennengelernt habe, hättest du am Krankenbett gestanden und um sie geweint, aber gleichzeitig krampfhaft an deinem unversehrten Körper festgehalten. Korneliussen lebt, Reinhard lebt, und es war nie geplant, dass sie sterben. Ich verstehe also nicht ganz, wo das Problem liegt.«
»Linea ist tot.«
Lind entnahm der Kiste etwas, das wie ein Skalpell aussah. Die Stahlklinge glänzte auf. »Dafür, dass du so ein Feigling bist, spielst du ganz schön den Starken.« Lind betrachtete demonstrativ das scharfe Instrument. »Sag mal – und bitte, sei ehrlich, denn ich
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