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Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Granhus
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ungefähr fünfzig Meter Entfernung von der Hütte zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er starrte angestrengt ins Dunkel und sah, dass dieser Schatten ein Mensch war, der sich langsam und gebückt von der Hütte entfernte. Es war Karianne.
    »Willst du sie nicht rufen?«
    Noch immer war er unschlüssig, ob ihre Freilassung nicht am Ende Teil eines raffinierten Plans war, und in seiner Verwirrung brauchte er eine Weile, bis er schließlich ihren Namen rief. Sie blieb sofort stehen, antwortete aber nicht. Erst beim zweiten Mal antwortete sie: »Ich bin’s.« Dann senkte sie wieder den Kopf und ging weiter. Das war ohne jeden Zweifel Kariannes Stimme gewesen.
    »Du zweifelst noch?« Lind kam auf ihn zu. Sein Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf, eine kalte, hasserfüllte Ausgabe des Kollegen, der ihn so freundlich aufgenommen und ihm kopfschüttelnd von dem armen Teufel erzählt hatte, der sein Leben der Suche nach seiner verschwundenen Schwester gewidmet hatte. Derselbe Kollege hatte aufrichtig erschüttert gewirkt, als sie Ellen Steen fanden, und sein Spiel die ganze Zeit meisterlich weiterinszeniert, bis Niklas ihn nach den Organspenderausweisen fragte. Das Undenkbare war geschehen: Der Neuankömmling war ihm auf die Spur gekommen, und dieser Neuankömmling war nicht irgendwer – er war der Mann der Frau, die im Mittelpunkt dieses ganzen Wahnsinns stand.
    Niklas warf einen Blick über die Schulter und sah Karianne aus dem Blickfeld verschwinden.
    »Ich hab ihr den Weg erklärt. Sie kann sich gar nicht verirren. Hast du die Autoschlüssel stecken lassen?«
    Niklas nickte.
    »Dann ist sie in zehn, fünfzehn Minuten unten und in einer guten halben Stunde zu Hause. Das bedeutet, dass wir nicht viel Zeit haben.«
    Lind kam auf ihn zu, fasste ihn bei den Handschellen und zog daran. »Wir zwei haben nämlich ein kleines Projekt vor uns.«
    Er schleppte Niklas in die Hütte und bat ihn sogar, den Kopf einzuziehen, als sie durch die Tür traten, die eher für einen kleinwüchsigen Jäger gedacht war. Die Hütte bestand nur aus einem einzigen Zimmer, mit zwei Etagenbetten an jedem Ende und einem Holzofen. Dreißig Minuten, hatte Lind gesagt, aber da täuschte er sich. Niklas hatte ein zusätzliches Handy ins Auto gelegt, also würde es höchstens eine Viertelstunde dauern, bis Karianne Brocks alarmieren konnte. Innerhalb einer Stunde konnten sie hier sein, wenn der Polizist die Zeit nicht mit Zweifeln und unnötigen organisatorischen Maßnahmen vertrödelte.
    »Weißt du was?« Lind schob ihn auf einen Stuhl und baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Wir zwei sind uns gleichzeitig ähnlich und unähnlich.«
    »Inwiefern?«, fragte Niklas, als er merkte, dass Lind eine Antwort von ihm erwartete.
    »Du hast gesagt, du bist ohne jeden Plan hergekommen. Das gilt auch für mich. Ich habe keinen Plan für die nächste Stunde – ich hab mir ausgerechnet, dass wir eine Stunde Zeit haben werden. Ich nehme an, du hast ein Handy ins Auto gelegt? Natürlich, so dumm bist du ja nicht. Und weißt du, wo wir uns unähnlich sind? In der Planung. Denn die Minuten bis …«, Lind warf einen Blick auf seine Uhr, »… bis Viertel vor zwölf sind bis ins letzte Detail durchdacht. Auch die Tatsache, dass du hier sitzt, während Karianne auf dem Weg zum Auto ist. Denn Karianne wollte ich nicht, Niklas, das hättest du dir doch denken können. Ich habe das alles nur gemacht, weil ich nicht wusste, wo du bist und wie viel du schon herausgefunden hast. Aber ich wusste, dass es um Stunden geht, und ich wusste, dass ich dich weit weglocken musste. Deswegen brauchte ich Karianne.«
    Niklas konnte ihm nicht ganz folgen. Er begriff nur, dass Lind immer noch sein Spiel spielte, wie seit fünfundzwanzig Jahren. »Warum?«, fragte er.
    »Warum? Liegt das denn nicht auf der Hand, Niklas? Ich kann Karianne diesmal nicht retten, das kannst nur du. Deine Niere passt, nicht meine. Nur durch dich kann sie weiterleben. Ich habe deinen Zweifel gesehen, weißt du, und ich wusste, du bist der Typ, der am Ende kneift. Aber das soll dir nicht gelingen. Deine Niere wirst du los, Niklas, koste es, was es wolle. Und deswegen bist du hier.«

44

    In diesem Moment verschwand der letzte Rest von Menschlichkeit aus Linds Gesicht. Kalt und mechanisch, als wäre Niklas ein Stück Schlachtvieh, zog er ihn an den Handschellen hinter sich her. Bevor Niklas begriff, wie ihm geschah, hatte Lind die Handschellen über einen Haken in einem Deckenbalken gezogen. In gestreckter

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