Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
jeden Augenblick hier sein.«
»Wird sie überleben?« Lind schluckte schwer und hörbar.
»Wenn man das wüsste.« Der Arzt warf einen Blick auf seinen Computerbildschirm, wo wahrscheinlich die Krankenakte der Frau zu sehen war. »Sie muss operiert werden, und mit dieser Art Eingriff haben wir wenig bis gar keine Erfahrung. Also möchte ich lieber keine Prognosen abgeben, aber ich glaube, ich kann sagen, dass wir froh sein dürfen, wenn sie überlebt. Sie hat einen Schädelbruch, und sie hat viel Blut verloren. Das waren viele, sehr harte Schläge.«
»Sie haben etwas gefunden, oder?« Niklas deutete mit einer nickenden Kopfbewegung auf den Computer. Doch der Arzt stand auf und trat an den Untersuchungstisch, wo er sorgfältig das ausgebreitet hatte, was einmal ein Kleid gewesen war. Jetzt war es derart zerschnitten, dass es eher einer von Wind und Wetter zerfetzten Flagge ähnelte.
»Mal sehen … also, das ist das Oberteil. Wir haben das Kleid natürlich auch stellenweise aufschneiden müssen, aber das hier war nicht unser Werk.« Der Arzt schob die Hand unter den Stoff, so dass die Handfläche durch die Risse zu sehen war. Das Kleid wies fünf vertikale Risse auf, von denen vier ungefähr zwanzig Zentimeter lang waren, der fünfte nur halb so lang. »Schon seltsam. Fünf Risse so dicht nebeneinander. Das fällt natürlich in Ihren Bereich, aber sollte man nicht meinen, dass der Täter tiefer schneiden würde?«
»Wir haben einfach nur auf die Kopfwunde geschaut.« Lind steckte prüfend einen Finger in einen der Risse.
Niklas bemerkte, dass das Kleid Blutflecke hatte und am Ausschnitt die Farbe eher ins Dunkelrote überging.
»Aber ich befürchte, dazu gibt es noch mehr zu sagen. Wenn Sie kurz mal ins Krankenzimmer mitkommen wollen …«
Der Arzt führte sie in einen Raum auf demselben Korridor. Eine Krankenschwester saß neben der Verwundeten, die man inzwischen gewaschen hatte, so dass ihr Gesicht deutlicher zu sehen war, obwohl die Schläuche, die ihr aus Nase und Mund kamen, ihr Aussehen verfremdeten.
»Das muss Ellen Steen sein«, flüsterte Lind.
»Zwei von unseren Schwestern hier sind sich da auch ganz sicher«, sagte der Arzt, während er die Decke der Frau so weit beiseiteschlug, dass man den Bauchbereich sehen konnte. Und tatsächlich verliefen unter der linken Brust fünf längliche Kratzer in der Haut, von denen aber keiner besonders tief zu sein schien. »Ich habe schon so manchen Kratzer und Schnitt zu sehen bekommen.« Der Arzt deckte sie wieder zu. »Aber so was noch nie.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«, fragte Niklas, als sie wieder auf dem Korridor standen.
Der Arzt seufzte, als fiele ihm das Eingeständnis schwer. »Es ist möglich, dass ich mich täusche, aber für mich sehen diese Kratzer so aus, als wären sie von Tierklauen verursacht.«
11
Bodø
Rino spürte die Unruhe im ganzen Körper, als er mit seinem Volvo gerade aus der Stadt hinauszockelte, und schlug mit der Handfläche ungeduldig auf das Lenkrad. Er hatte Renate Øverlid angerufen und nach ihren Angaben eine provisorische Straßenkarte angefertigt. Er konnte sie gar nicht schnell genug sprechen. Sein Gefühl, endlich eine Fährte zu haben, wurde immer stärker. Denn es ging um die Kinder – ja, im Moment ging es sogar hauptsächlich um die Kinder. Beim Gedanken an das, was Joakim passiert war, sah er einfach nur noch rot. Nach dem Gespräch mit dem Therapeuten hatte sein Sohn einen verschlossenen und beschämten Eindruck gemacht. Es schien wie ein Vorgeschmack auf das, was man aus dem wahren Joakim machen konnte, wenn seine Mutter ihren Willen bekam: einen gefügigen und identitätslosen Jungen.
Nach dem Rimi-Supermarkt bog er links ab. Mit einem schnellen Blick auf seine selbstgezeichnete Karte fand er bis zu einem Einfamilienhaus im Stil der siebziger Jahre, das man mit einem rosa Anstrich vorsichtig etwas moderner hatte gestalten wollen. Mit der Erwartung, gleich auch noch einer großen Ausgabe von Barbie gegenüberzustehen, klingelte er. Die Frau, die ihm öffnete, war alles andere als ein hübsches Püppchen, und er bezweifelte auch, dass sie das jemals gewesen war. Im Gegensatz zu ihrem Exfreund war sie eine gepflegte Erscheinung, doch ihre Gesichtszüge waren zu markant, um sie feminin wirken zu lassen.
»Sind Sie der Polizist?« Sie reichte ihm eine knochige Hand, an der klirrende Armbänder hingen.
Es fühlte sich an, als würde man einem Skelett die Hand schütteln – nicht nur, dass die Finger
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