Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
dünn waren, der Händedruck war auch schlaff wie der einer Fieberkranken.
Entweder hatte sie vor seinem Besuch aufgeräumt, oder sie mochte es gerne ordentlich, denn nichts deutete darauf hin, dass hier ein Achtjähriger wohnte.
»Kaffee?«
Auf dem Tisch standen zwei saubere Tassen und eine Schale Kekse, und er konnte nicht ablehnen.
»Wie ich schon am Telefon sagte, es geht um Kim Olaussen«, begann er, nachdem er einen vorsichtigen Schluck von seinem Kaffee genommen hatte.
»Das ist wirklich alles ganz schrecklich, aber ich weiß nicht recht, was mich das angehen soll.« Sie streckte die Hand nach einem Keks aus, den sie erst sorgfältig musterte, bevor sie ihn mit winzigen Bissen aufknabberte. Dabei vermied sie die ganze Zeit jeden Blickkontakt, doch er beschloss, das vorerst seinem forschen Auftreten zuzuschreiben. Er wäre nicht das erste Mal gewesen, dass eine Frau in seiner Gegenwart unsicher und schüchtern wurde.
»Sie haben einen gemeinsamen Sohn.«
»Was um alles in der Welt sollte Tommy denn damit zu tun haben?«
»Vielleicht nichts, vielleicht aber auch alles.«
Diesmal wagte sie ihm in die Augen zu sehen.
»Wie würden Sie Ihr Verhältnis zum Vater des Kindes beschreiben?«
»Zu Kim? Eigentlich als nicht existent. Letzten Herbst stand er mit einem Geburtstagsgeschenk vor der Tür, zu Weihnachten war’s ihm schon wieder egal.«
»Woran liegt das?«
Sie starrte ihn an, als fühlte sie sich durch seine Frage ins Unrecht gesetzt. »Er war noch nie interessiert.«
»Nach seinen Angaben haben Sie ihm gesagt, er solle abhauen.«
»Irgendwann erreicht man eben mal einen gewissen Punkt«, entgegnete sie und knetete sich die Hände.
»Könnten Sie das bitte näher ausführen?«
»Wie gesagt, er hatte kein Interesse. Der Gedanke, er könnte eine Verantwortung als Vater haben, ist ihm nie gekommen.«
»Vielleicht ist es ja besser, wenn jemand es spät begreift als nie. Manche von uns fühlen sich erst mal blockiert. Ich meine, die Vaterrolle kann einen vorübergehend schon in einen bedauerlichen Zustand werfen.«
»Bedauerlich? Sagten Sie bedauerlich?« Jetzt war dem zierlichen Körper kein bisschen Schüchternheit mehr anzusehen.
Sein Versuch, den Kindsvater zu verteidigen, hatte also eine Reaktion hervorgerufen, genau wie gewünscht.
»Ich kenne viele großartige Väter, die im ersten Jahr echte Versager waren. Ich sage nicht, dass es so sein sollte, ich stelle nur fest, dass Menschen sich auch ändern können.«
Sie zog eine angeekelte Grimasse, als würde ihr allein der Gedanke an den Kindsvater Brechreiz verursachen. »Kim hat sich nie geändert. Was ihm da passiert ist, ist ganz schrecklich, aber einmal Bettler, immer Bettler.«
»Bettler haben auch ein Lebensrecht.«
»Tommy hat etwas Besseres verdient.«
»Mit dieser Meinung stehen Sie nicht allein da.«
»Inwiefern?« Sie nahm sich noch einen Keks. Entweder hatte sie große Lust auf Zucker, oder sie wollte verzweifelt dafür sorgen, dass ihre knochigen Finger beschäftigt waren.
»Ich will es mal so ausdrücken: Wir haben deutliche Hinweise darauf, dass der Täter, der Kim misshandelte, das getan hat, um Tommy zu rächen.«
Sie wirkte aufrichtig verwirrt und ließ den Blick erschüttert über die Keksschale wandern. »Das verstehe ich nicht.«
»Sind Sie momentan mit jemandem zusammen? Gibt es in Tommys Leben eine männliche Person, die er als Stiefvater betrachtet?«
»Nein.«
»Keinen … Freund?«
»Was soll das?« Sie stand mit einem Ruck auf und wandte ihm demonstrativ den Rücken zu.
»Wir ermitteln hier in einem besonders ernsten Verbrechen. Die Frage ist relevant, und ich möchte Sie bitten, sie zu beantworten.«
»Das geht zu weit. Das ist meine Privatsphäre«, beharrte sie trotzig.
»Ich habe Sie nicht gefragt, mit wem Sie schlafen, sondern ob Sie einen Freund haben, der Umgang mit Tommy hat.« Er bereute seine Wortwahl im nächsten Augenblick, denn er hörte selbst, dass das nicht besonders gut klang.
»Habe ich nicht«, sagte sie.
»Gut.«
»Und meiner Meinung nach ist Kim ein biersaufender, egozentrischer Drecksack.« Sie drehte sich zu ihm um. »Aber es gibt Väter, die ihren Kindern Schlimmeres antun. Solche Männer hätten so etwas definitiv verdient.«
»Aber Kim nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts mit dem zu tun, was da passiert ist. Ehrenwort.«
Rino musste ein leises Lächeln unterdrücken. Es war schon lange her, dass jemand ihn mit einem Ehrenwort überzeugen wollte. »Und
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