Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
diese Theorie vorerst unter uns bleibt.« Bøe sah gelinde gesagt skeptisch aus.
»Drei Puppen, die auf selbstgebastelten Flößen losgeschickt werden, sind schon ganz schön auffällig. Und dass in ihrem Kielwasser das folgte, was sich als Berglands erster Mordfall herausstellen könnte, qualifiziert den Vorfall wohl zumindest als beunruhigend.« Niklas sah seinen kritischen Kollegen an. »Es ist Frühherbst, und die Temperaturen laden nun wirklich nicht zu Wanderungen in luftigen Kleidchen ein. Ich glaube, die Theorie ist alles andere als dünn.«
»Ich schließe mich an.« Lind kratzte sich diskret durch sein Hemd.
»Unsere größte Priorität liegt jetzt erst mal auf der sicheren Identifizierung. Dann müssen wir eine Menge Leute befragen – ich befürchte, diese Befragungen könnten sehr umfangreich ausfallen.« Brocks zog ein Etui aus seiner Jackentasche und putzte seine Brille kurz, bevor er sie auf die Nase setzte. Da klingelte das Telefon am Empfang. »Ich bin wohl am nächsten dran.« Brocks verließ das Zimmer mit einem angedeuteten Lächeln, als wollte er zeigen, dass er immer noch ganz ruhig war. Als er eine knappe halbe Minute später zurückkam, lächelte er nicht mehr. »Das war das Krankenhaus.«
»Ist sie tot?«, fragte Lind.
»Sie sind nicht besonders optimistisch, aber nein, tot ist sie noch nicht. Sie haben da allerdings etwas entdeckt, das sie uns zeigen wollen.«
Dunkle Wolken zogen von Süden herauf und brachten einen peitschenden Regen mit, der den letzten Rest von Tageslicht erstickte. Lind ließ die Scheibenwischer auf der schnellsten Stufe laufen, konnte aber auch nicht verhindern, dass ein dünner Wasserfilm die Sicht behinderte. Niklas glaubte zu sehen, dass sein Kollege erschüttert war, dass die Ruhe, die er nach außen zeigte, nur aufgesetzt war. Er hatte die seefahrenden Puppen mit einem schiefen Grinsen und einem Schulterzucken begrüßt, doch jetzt war er offenbar absolut sicher, dass es eine Verbindung zu der Frau gab, die gerade zwischen Leben und Tod schwebte.
»Wenn es wirklich Ellen Steen ist, also, soweit ich weiß, ist die kinderlos.« Er klang, als wollte er sich selbst trösten. »Dass es jemandem einfallen kann, einem anderen Menschen den Schädel einzuschlagen, ist an und für sich ja schon erschreckend genug, aber aus irgendeinem Grund finde ich das mit dem Kleid am schlimmsten. Dadurch wirkt es irgendwie so …«
»Vorsätzlich«, sagte Niklas.
»Nicht nur vorsätzlich, sondern so richtig eiskalt.«
»Und kompliziert.«
»Und kompliziert«, bestätigte Lind, obwohl er streng genommen ja gar keine Vergleichsmöglichkeiten hatte.
»Alles deutet auf einen Mordversuch hin, der lange im Voraus geplant wurde. Es muss eine Weile gedauert haben, die Puppen vorzubereiten, und die Strände scheinen ja auch bewusst gewählt worden zu sein. Nicht zuletzt der, an dem die Frau gefunden wurde. Wie du schon gesagt hast, keiner der Anwohner kann den Strand einsehen. Außerdem muss er sie auf jeden Fall längerfristig beobachtet haben. Dieser Kerl war über jede ihrer Bewegungen im Bilde und wusste genau, wann er zuschlagen musste.«
»Trotzdem ist ihm da buchstäblich ein Fehlschlag passiert. Sie lebt, und wenn wir Glück haben, kann sie uns etwas erzählen.« Lind klammerte sich offenbar an die Hoffnung, einen einfachen Ausweg zu finden.
»Darum können wir wirklich beten.« Der Anblick der peitschenden Scheibenwischer hatte eine geradezu hypnotische Wirkung, und Niklas schloss die Augen. »Vor allem wenn man daran denkt, dass es noch zwei andere Puppen gibt«, fügte er hinzu.
Das Krankenhaus mit seinem Sammelsurium an Anbauten ähnelte einem riesigen Insekt, dessen ursprüngliches Gebäude den Körper bildete, während die Anbauten die Fangarme darstellten.
Sie meldeten sich am Empfang und wurden in ein Büro im zweiten Stock geführt, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift DIENSTHABENDER ARZT NOTAUFNAHME hing. Niklas bemerkte, dass auf einem Stahltisch ein Paar zusammengeknüllter Gummihandschuhe und im Abfalleimer blutige Tücher lagen. Offenbar war es eine ereignisreiche Schicht gewesen.
»Ivar Bergstuen.« Der Arzt, der ungefähr Mitte fünfzig sein mochte, begrüßte Niklas mit Handschlag und bedachte Lind mit einem kurzen Nicken. Anscheinend hatten sie sich schon bei früheren Gelegenheiten kennengelernt. »Sie wird jetzt beobachtet, wird aber so schnell wie möglich nach Tromsø überführt. Wir haben einen Flug organisiert, der Helikopter müsste
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