Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
das Kleid der Puppe wesentlich liebevoller gestaltet gewesen war, und machte sich im Hinterkopf eine Notiz, dass er sich das später noch einmal ansehen wollte. Wenn es sich so verhielt, wie er dachte, deutete dieser Umstand darauf hin, dass der Täter es eilig gehabt hatte.
Eine Welle von Aftershave wallte Brocks voraus, bevor er neben Niklas trat. »Wir brauchen Spuren«, sagte er. »Wir können nicht immer einfach nur hinterherhecheln. Bis jetzt haben wir die ganze Zeit bloß Tatsachen festgestellt, sonst nichts. Unsere Befragungen sind ergebnislos geblieben. Die Wahrheit ist, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, was hier eigentlich passiert. Und obendrein sieht es mir ganz so aus, als würde jemand die Tatsache nutzen, dass wir alle Hände voll zu tun haben. Heute Morgen sind zwei weitere Einbrüche gemeldet worden.«
Niklas nickte. Sie tappten im Dunkeln. Die Ereignisse waren wie isolierte Bruchstücke von etwas, wovon sie nicht mal ansatzweise die Konturen erkennen konnten. Außerdem stellte diese tote Frau eine Abweichung vom Muster dar, ohne dass er hätte erklären können, worin und warum. Doch irgendetwas sagte ihm, dass der Täter schlampig gewesen war und sein eigenes Schema gebrochen hatte. »Wenn sie erschlagen worden ist …«
»Wenn?« Lind bürstete sich Hautschüppchen von den Schultern.
»Wenn wir uns vorstellen, dass er kräftig zugeschlagen hat – müsste man da nicht annehmen, dass sie in sich zusammengesackt wäre?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Wenn der Mörder hingegen mehrmals zugeschlagen hätte, hätte sie dann nicht versucht, ihren Kopf zu schützen?«
Lind zeigte demonstrativ, dass er ihm nicht folgen konnte.
»Die ganze Art, wie sie daliegt«, fuhr Niklas fort. »Da stimmt doch was nicht. Hier gibt es keine Spur, die darauf hindeuten würde, dass sie versucht hat, vor ihrem Angreifer davonzukriechen. Trotzdem hat sie den einen Arm ausgestreckt, fast so, als wollte sie auf etwas deuten.«
»Und was willst du uns damit sagen?«
»Damit will ich sagen, dass diese Haltung arrangiert wirkt. Entweder will der Mörder uns auf eine falsche Fährte locken … oder auf die richtige.«
»Die Antwort liegt in den Puppen.« Lind hob den Blick zum verdunkelten Horizont. »Und den Kleidern.«
Ein blauer Schein tauchte auf, doch es war keine Sirene zu hören. Wahrscheinlich hatte Brocks ihnen schon mitgeteilt, dass hier kein Leben mehr zu retten war. Niklas setzte sich wieder neben die Tote und strich mit der Hand vorsichtig über den Rücken des Kleides. Der Stoff wies längs verlaufende Risse auf, genau wie bei Ellen Steens Kleid. Er versuchte, einen auseinanderzuziehen, doch der Stoff war zu straff. Stattdessen steckte er vorsichtig einen Finger in einen Riss, hob das Kleid leicht von der Haut ab und leuchtete in den Spalt. Die Haut war blutig. Vor seinem inneren Auge sah er wieder das Tier aus seinem Traum, wie es diesmal von hinten angriff, wie die kräftigen Klauen durch Kleidung und Haut gingen und die Beute zeichneten.
»Hast du da was gefunden?« Lind beugte sich über ihn.
Niklas stand auf und trat einen Schritt zurück. Die Frau, die wie eine der Puppen gekleidet war, sah aus wie ein kleines Kind. Ein misshandeltes Kind. Ermordet von dem Monster, von dem es auch misshandelt worden war.
»Brocks hat recht«, sagte er. »Wir haben keine Ahnung, was hier eigentlich passiert.«
20
Bodø
Es war schon fast zwei, als Rino vor der Wohnung von Even Haarstad stand. Nachdem er Thomas seine Überlegungen mitgeteilt hatte, meinte sein Kollege, dass aufgrund dieser Theorie ein Eingreifen nicht im Geringsten gerechtfertigt war. Nichtsdestoweniger hatte er zugeben müssen, dass er ihm bis auf Weiteres zustimmte. Der gemeinsame Nenner verwies auf das Sozialamt, und damit auch auf das Jugendamt, das direkt im Flur nebenan untergebracht war. Es gab natürlich nur einen Even, und Thomas hatte nicht mehr als zehn Minuten gebraucht, um den Nachnamen herauszufinden, und zwar über die Spinningpartnerin seiner Freundin, bei der es sich der Beschreibung nach wohl um das lächelnde Mädchen am Empfang handelte. Jetzt stand er also hier, obwohl Thomas ihm geraten hatte, noch abzuwarten. Er drückte auf die Klingel, hörte das Murren von drinnen, und dann ging die Tür auf. Even Haarstad musterte ihn skeptisch.
»Even Haarstad?« Rino, der zu diesem Anlass in Zivil gekommen war, reichte ihm die Hand und lächelte wie ein entfernter Onkel aus Amerika.
Zögernd erwiderte der Mann seine
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