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Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Granhus
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Exakt an der gleichen Stelle.«
    »Und deswegen …?«
    »Ganz ähnlich war es bei dem Vorfall am Amundsen-Kai. Den Mann, der dort gequält wurde, hat man genau dort gefunden, wo in den sechziger Jahren ein Hafenarbeiter wider alle Erwartungen einen Brand überlebte.«
    »Immerhin, da ist einer geschichtlich ja bestens informiert.«
    »Jetzt suchen wir eben nach der Ursache, die dahintersteckt.«
    Der Alte zuckte unter seinem viel zu weiten Hemd mit den Schultern. »Ich befürchte, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Ich bin Gott weiß wie viele Jahre nicht mehr da draußen gewesen, ich bin nicht mal sicher, ob ich die Stelle noch finden würde. Es ist natürlich schade, dass jemand den Ort zum Schauplatz eines Verbrechens gemacht hat, aber in meinen Augen wird es dadurch weder besser noch schlimmer. Ich habe das Ereignis hinter mir gelassen, oder besser gesagt: Ich habe die Angst und den Schmerz hinter mir gelassen. Damals ist es mir gelungen, eine Niederlage in einen Sieg umzuwandeln, und ich konnte meinem Schöpfer für diese Nacht im eisigen Seewasser danken.«
    Rino glaubte zu wissen, was der alte Mann jetzt erklären würde.
    »Sie haben sicher schon mal gehört, dass im Augenblick des Todes das ganze Leben vor Ihren Augen Revue passiert, oder? Das kann ich Ihnen hiermit weitestgehend bestätigen. Ich erlebte, wie meine Kräfte langsam versagten, und spürte meine Lungen brennen, während ich resigniert Seewasser zu schlucken begann. Und mit erstaunlich klarem Blick sah ich mein noch junges Leben vor mir, wie ich es damit vergeudet hatte, mich über gewisse Einschränkungen zu ereifern, die nicht mal wirklich Einschränkungen waren. Tatsächlich begriff ich, dass ich sie zum Großteil selbst geschaffen, sie sozusagen heraufbeschworen hatte. Der 23. Oktober 1940 war in vielerlei Hinsicht der Tag meiner Wiedergeburt, obwohl es eine Weile dauerte, bis ich das begriff. Seitdem habe ich versucht, anderen zu vermitteln, was ich aus diesem Erlebnis gelernt habe, aber der Mensch ist nun mal so, dass er selten etwas aus dem lernt, was man ihm erzählt. Er muss es selbst erfahren.«
    »Was meinen Sie mit ›vermitteln‹?«
    »Haben Sie Ihre Hausaufgaben denn nicht gemacht?« Der Alte setzte eine strenge Miene auf. »Die Hochschule setzt mich seit Mitte der siebziger Jahre als Gastdozent ein. In Philosophie. Die Vorlesungen heißen bei den Studenten Leben und Tod , obwohl sie damit nur zeigen, dass sie das Wesentliche nicht verstanden haben. Denn diese Vorlesungen handeln ausschließlich vom Leben – ja, sie sind eine rückhaltlose Huldigung an das Leben und unsere Chance, das Leben zu gestalten. Ich war und bin ein glücklicher Mann, Herr Ermittler. Dieser schicksalsschwere Herbsttag hat mich zu einem besseren Menschen gemacht.«
    Auf dem Heimweg dachte Rino über die mageren Beschreibungen des Täters nach. Sowohl Olaussen als auch Ottemo hatten von einem gummiartigen Kleidungsstück gesprochen – aber hatten sie das tatsächlich gesagt? Sie hatten etwas gestreift , was sich wie Gummi anfühlte, und daraufhin angenommen , dass es sich um einen Taucheranzug handelte, oder? Jemand hatte sie mit eisernem Griff festgehalten, und sie glaubten, Gummi auf der Haut zu fühlen, aber vielleicht waren ja nur die Hände gummigepolstert gewesen.
    Die Hände? Wie bei den Opfern? Hände unter einer gummiähnlichen Kleidungsschicht. Um etwas zu verstecken? Oder um sich gegen Kälte und eisiges Seewasser zu schützen? War der Täter Ähnlichem ausgesetzt gewesen? Hatte er dauerhafte Schäden von Erfrierungen … oder, was wahrscheinlicher war, von Verbrennungen davongetragen? Auf einmal sah er die Gestalt vor sich, erinnerte sich, wie der Mann die Hand hinter einem Stapel Papiere verborgen hatte. Hatte er das getan, damit der Polizist seine vernarbte Haut nicht zu sehen bekam?

19
Bergland
    Während Niklas der Geschichte von Edmund und Andrea lauschte, hatte er seine Umgebung für eine Weile völlig vergessen. Er merkte nicht, dass der Wind immer stärker wurde und prasselnden Regen aus Westen mitbrachte. Nachdem Lilly Marie ihm versichert hatte, dass er jederzeit wiederkommen dürfe, begab er sich hinaus in den Sturm. Er stellte die Scheibenwischer auf die höchste Stufe, und es kam ihm vor, als würde er eine Luftspiegelung der winkenden Lilly Marie sehen. So kam ihm inzwischen auch diese ganze Angelegenheit vor: dunkel und schwer zu deuten, und alles, was das Auge sah, musste entfernt werden, um die Wirklichkeit zu enthüllen,

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