Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Pflegevater. Und das Schicksal meint es ganz schön böse mit einem alten Kerl wie mir – dieser Drecksack ist nämlich heute noch mein Nachbar. Der wohnt gleich hier auf diesem Flur.« Der Alte bemerkte Rinos Miene und beeilte sich hinzuzufügen. »Aber von den Schultern aufwärts hat sich bei ihm schon alles von der Welt verabschiedet. Es ging ganz schnell, und wenn Sie mich fragen, das kam keinen Tag zu früh. Die Zeit, die der auf demselben Planeten wie Sie und ich verbracht hat, nutzte er ausschließlich dazu, Böses zu tun. Ein ausgewachsener Sadist, dem es wie den meisten Psychopathen gelang, seine schlimmsten Seiten vor seiner Umgebung zu verbergen und sie stattdessen nur seiner Familie zu offenbaren. Wenn auch nicht ganz – ich hab schon bald gesehen, dass da was nicht stimmte, obwohl mir nicht klar war, wie schlimm es stand.« Der Ausbruch hauchte seinen runzligen Wangen etwas Leben ein. »Aber warum fragen Sie nach Even? Was hat er denn gemacht?«
»Wir haben den Verdacht , dass er hinter zwei Fällen von schwerer Körperverletzung steht.«
»Körperverletzung? Tragödien neigen doch immer dazu, sich zu wiederholen.« Der Alte trocknete sich den Mund mit dem Handrücken. »Aber nicht gegen Kinder gerichtet, oder?«
»Gegen zwei erwachsene Männer, aber wir glauben, dass es dabei trotzdem um Kinder geht.«
»Sie müssen berücksichtigen, dass ich gerade erst aufgewacht bin, ich bin noch ein bisschen benommen. Ich glaube, ich komme nicht ganz mit.«
»Das ist eine lange Geschichte, und in Teilen unterliege ich hier immer noch der Schweigepflicht. Ich kann aber so viel sagen, dass die Opfer Väter waren, die ihre Rolle nicht besonders wichtig genommen haben. Man hat am Tatort jeweils Zeichnungen gefunden, die klar darauf hindeuten, dass die Misshandlung der Opfer eine Strafe für die Vernachlässigung ihrer Kinder war.«
Der Alte dachte nach. »Ich erinnere mich an Even als einen scheuen, grüblerischen Jungen. Ich glaube, dass er im Laufe der Zeit schon kapierte, mit was für einem Wahnsinn er es da zu tun hatte – ja, vielleicht verstand er es nur allzu gut. Doch statt Widerstand zu leisten oder jemandem zu erzählen, was bei ihm zu Hause passierte, übernahm er die Rolle des Beschützers seiner Pflegemutter. Ich glaube, er redete sich ein, dass es die beste Alternative sei, wenn er die Prügel und Demütigungen einsteckte, so dass dieser Scheißkerl seine Wut an ihm abreagieren konnte und die Frau nicht anrührte. Das wusste ich damals selbstverständlich noch nicht, sonst hätte ich gehandelt, und wenn ich diesem sadistischen Schwein eine Ladung Schrot verpasst hätte. Wissen Sie …«, der Alte riss sich die Decke von den Beinen und warf sie auf den Boden, als hätte jemand sie ihm aufgezwungen, »… damals konnte so gut wie jeder ein Pflegekind bekommen, wenn sich die nächsten Verwandten nicht um ein Kind kümmern konnten oder wollten. Evens Mutter starb bei der Geburt, und bis heute weiß keiner, wer der Vater war. Da er keine anderen Angehörigen hatte, waren die meisten wohl zufrieden, als Alvilde und Lorents sich als Pflegeeltern meldeten. Heute weiß man es besser …«
»Wann ging Ihnen auf, dass da was nicht in Ordnung war?«
»Dass da was nicht in Ordnung war, wusste ich die ganze Zeit. Alvilde war eine arme unterdrückte Frau, die so gut sie konnte in Lorents’ Netz aus ungeschriebenen Gesetzen lebte. Ich habe schon bald gemerkt, dass diese Ehe eine lieblose Beziehung war, die Lorents mit eiserner Hand regierte. Man sah das an den Blicken, die er ihr zuwarf, an den Kommentaren, mit denen er ihr das Wort abschnitt. Man spürte geradezu, dass Lorents das, was er sich in Gegenwart anderer Leute verbiss, in den vier Wänden seines Heims voll auslebte. Mit dem Jungen war es genauso, obwohl er ihn selten herausforderte. Even lernte schon früh die Kunst der Unterwerfung.« Der Alte sah sich im Zimmer um, während er leise Schmatzlaute von sich gab. »Ich krieg so einen trockenen Mund. Das müssen diese Aufstehtabletten sein. Oder vielleicht die Schlaftabletten, die ich davor gekriegt habe. Wären Sie so nett, mir ein Glas Wasser zu holen? Draußen steht so ein Wasserspeicher, der alle möglichen Algen anzieht.«
Eine halbe Minute später reichte Rino ihm einen Plastikbecher.
»Schmeckt widerlich, aber es hilft gegen die Trockenheit. Sie sagten vorhin Körperverletzung – können Sie das genauer erklären?«
»Der Erste wurde mit den Händen einen halben Meter unter dem Meer
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