Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Weihnachtsdekoration und hinterließ eine Spur aus Lametta und Pappherzen. Nachdem er eingeschlafen war, setzte sie sich mit den Kindern zusammen, und sie lachten herzlich. Sogar Heidi, die noch nie viel gelacht hatte, lächelte, als hätte sie etwas ganz Neues entdeckt. Sie
lächelten immer noch, als sie den Weihnachtsschmuck zum zweiten Mal aufhängten. Und Andrea wusste, sie lachten nicht, weil sie die Verwüstungen so komisch fanden, die ihr Vater hinterlassen hatte, sondern weil er nicht mehr dieselbe latente Bedrohung darstellte wie früher.
Edmunds Gichtschmerzen und seine zunehmende Alkoholsucht bedeuteten eine Art Umschwung. Es war schon fast ein Jahr her, dass er sie zum letzten Mal geschlagen hatte, und – noch wichtiger – mehrere Monate, seitdem er ihr »den Blick« zugeworfen hatte, diesen ganz speziellen Blick, der ihr sagte, was sie zu erwarten hatte. Neben dem neuen Edmund fühlte sie sich mehr oder weniger ruhig, sie begann zu glauben, dass diese Veränderung anhalten würde, doch dann kam er eines Tages Ende März plötzlich in rasender Wut zur Tür hereingestürmt. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, vor allem, um ihm die Verlegenheit zu ersparen, doch als sie die plötzliche Stille bemerkte, hielt sie den Atem an und erstarrte. Als sie sich umdrehte, sah sie den Blick wieder, diesmal schwärzer und hasserfüllter denn je. So standen sie sich eine gefühlte Ewigkeit gegenüber, und sie wusste, dass er diesen Augenblick genoss, dass er sah, wie Angst und Panik in ihr hochstiegen. Die Angst weckte Gedanken an das Undenkbare, doch als er schließlich etwas sagte, war es schlimmer als alles, was sie sich hätte ausmalen können.
»Ich habe gehört, dass du mit einem Kerl vom Elektrizitätswerk herumziehst.«
24
Rino hatte der freundlichen Bewohnerin eine geschönte Version der Wahrheit unterbreitet. Er sagte, dass er nur gerne das Haus hatte sehen wollen, in dem ein Bekannter von ihm aufgewachsen war. Die Frau bot ihm an hereinzukommen, wenn ihm die Unordnung nichts ausmachte, doch er lehnte höflich ab. Sie hatte etwas Verzweifeltes an sich, und im ersten Moment dachte er, dass sie ein einsamer Mensch sein musste. Erst hinterher wurde ihm klar, dass es sicher tiefer ging. Irgendetwas bedrückte sie, und vielleicht renovierte sie das Haus, um quälende Gedanken auf Abstand zu halten.
Das Gebäude des Altenheims war, wie der Polizist schon angedeutet hatte, auf den ersten Blick kein ästhetischer Genuss, doch glücklicherweise war der Eindruck gleich ein ganz anderer, als er eintrat. Eine Pflegerin führte ihn durch die Flure und blieb vor einer Tür stehen, an der ein Zettel mit dem Namen des Bewohners hing. Nachdem sie den Kopf in das Zimmer gesteckt und dem Alten etwas zugeflüstert hatte, führte sie Rino hinein.
Halvard Henningsen saß in Ruhestellung auf einem Lehnstuhl. Eine Decke wärmte ihm Beine und Rumpf. »Besuch für mich? Du liebe Zeit.« Er drückte auf ein kleines Ding an der Armstütze, und die Stuhllehne fuhr langsam nach oben.
»Ich heiße …«
»Setzen Sie sich doch erst mal. Ich werde nervös, wenn Leute so auf mich runtergucken, dann denke ich jedes Mal, ich werde gleich wieder umgezogen, gewaschen oder eingecremt. Aber so was haben Sie wohl nicht vor, oder?«
Rino setzte sich auf einen abgewetzten Sessel neben einem alten, kleinen Tischchen. »So, ich versuche es noch mal: Ich bin Rino Carlsen, Kommissar der Polizei Bodø.«
»Aber jetzt sind Sie privat hier, oder was?« Der Alte, der irgendwas zwischen achtzig und neunzig sein musste, hob eine Hand. Die Finger waren dünn und lang und ließen Rino unwillkürlich an die Horrorfilme denken, für die Joakim so eine Vorliebe hatte.
»Ja und nein.« Rino nahm an, dass der Mann auf seine Zivilkleidung anspielte. »Es geht um einen Fall, an dem ich gerade arbeite. Da ist ein Name aufgetaucht … von einer Person, die Sie mal gekannt haben.«
»Even?« Der Alte grinste verschlagen, denn er war sich schon jetzt sicher, ins Schwarze getroffen zu haben.
»Even Haarstad, genau.«
»Warum wundert mich das nicht?«
»Das ist im Grunde genau das, was ich von Ihnen wissen will. Sie sind heute schon der Zweite, der nicht überrascht scheint.«
Der Alte setzte eine fragende Miene auf.
»Der Erste war einer von der Polizeistation. Der hat mich auch an Sie verwiesen, weil er meinte, Sie waren eine Weile der nächste Nachbar.«
»Ja, leider. Und ich sag das gar nicht wegen Even, sondern wegen Lorents, dieser Bestie von einem
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