Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
schöne Geschenke, nur für Edmund nicht, denn sie wollte nicht sein letztes bisschen Selbstachtung zerstören. Und dann kaufte sie Essen für Weihnachten, nicht im Überfluss, dafür reichte das Geld nicht, aber doch so, dass Weihnachten für alle ein Fest wurde.
Als sie in die Küche kam, hatte sie sich immer noch keine glaubwürdige Erklärung dafür zurechtgelegt, woher das ganze Geld gekommen war, und sie fühlte sich, als würde sie neben sich selbst stehen und sich zusehen, wie sie die Waren auspackte, wie sie die Süßigkeiten auf dem Küchentisch stapelte und die Kinder vor Begeisterung aufheulten. Aus dem Augenwinkel sah sie ihn immer noch stumm dasitzen, mit einem Blick, den sie nicht zu deuten wusste. In einen Moment glaubte sie einen glänzenden Schimmer in seinen Augen zu sehen und dachte, dass er vielleicht die kindliche Freude der drei teilte, doch im nächsten Moment verfinsterte sich sein Blick, und sie befürchtete schon das Schlimmste. Aber er sagte nichts.
»Da müsst ihr euch schön bei Papa bedanken«, sagte sie, als alles ausgepackt war und sich der erste Lärm gelegt hatte. »Der ist schließlich bei Wind und Wasser draußen auf dem Meer, um das Geld dafür zu verdienen.«
Die Kinder umarmten ihn steif. Von ihm kam nur ein gequältes, vorsichtiges Lächeln, aber er schwieg weiter.
Konrad und Heidi spielten so lange, bis sie vor Müdigkeit einschliefen. Ihre Angst vor seinem bleischweren Schweigen wuchs, doch dann kam er zu ihr ins Wohnzimmer und stellte ihr einen Schuhkarton auf den Schoß.
»Das ist für dich«, sagte er und drehte sich um. »Ich gehe ins Bett.«
»Aber willst du denn nicht warten, bis ich es aufgemacht habe …«
»Nein!« Sie spürte einen Hauch seiner alten Entschlossenheit. »Ich will, dass du wartest, bis ich mich hingelegt habe. Ich fühl mich heute nicht so gut …« Er blieb noch einen Moment stehen und schien plötzlich ganz verlegen. Dann verließ er das Zimmer.
Der Karton war nicht verpackt und wog auch nicht viel. Sie spürte einen Knoten im Bauch, als sie vorsichtig den Deckel hob. Umschläge. Gebündelte Umschläge. Ihr Name und ihre Adresse standen darauf, aber sie erkannte die Schrift nicht. Alle Umschläge waren geöffnet worden. Sie nahm den ersten Brief heraus, blätterte zur letzten der dicht beschriebenen Seiten und begann zu zittern, als sie die Unterschrift sah: »Deine Thea«. Die Briefe von ihrer einzigen wahren Freundin. Die Briefe, die sie ihr immer weitergeschrieben hatte, obwohl die Antwort ausgeblieben war. Jahr um Jahr hatte sie ihr geschrieben – in der Schachtel mussten um die fünfzig, sechzig Briefe liegen. Es kam ihr vor, als würde sich das ganze Zimmer bewegen, Engel und Wichtel tanzten um sie herum und teilten ihre berauschende Freude, ohne von der unsagbaren Traurigkeit zu wissen, die Andrea gleichzeitig fühlte. Der Geruch von Apfelsinen und Weihrauch, der Anblick der Kinder, die vergnügt ins Bett krochen – all das wurde einfach zu viel für sie, und ihr Körper wurde von Schluchzern erschüttert. Sie hatte noch keine einzige Zeile von dem gelesen, was Thea ihr geschrieben hatte, trotzdem weinte sie, sie spürte die Nähe ihrer verlorenen Freundin, einfach indem sie ihre Briefe in der Hand hielt. Schließlich fing sie sich und begann die Briefe nach Datumsstempel zu sortieren. Dann begann sie zu lesen. Zwei Stunden lang las sie, trocknete ihre Tränen und lächelte, bevor sie den Stapel umdrehte und noch einmal von vorne anfing. Der letzte Brief war neun Monate alt. Das deutete sie so, dass Thea es zum Schluss wohl aufgegeben hatte, doch dann überfiel sie die Angst, dass ihre Freundin krank oder tot sein könnte. Plötzlich hatte sie es furchtbar eilig, holte ihren Block und einen Stift hervor und begann zu schreiben. Erst um halb sechs am Weihnachtsmorgen war sie endlich fertig.
Edmund sagte kein Wort, doch er war immer noch verschlossen und schwermütig. Konrad, der Empfindsamste von allen, war wie ein Barometer, das die Stimmungsumschwünge seines Vaters registrierte, lange bevor sie für die anderen sichtbar wurden. Da der Junge ihn so sorgfältig mied, machte sie sich auch darauf gefasst, dass der Weihnachtsfrieden bald sein jähes Ende finden würde. Doch diesmal war es eher eine Unruhe, ein Drang, der befriedigt werden musste, und schon bald ging Edmund zur Tür. Ein paar Stunden später kam er zurück und war voll wie eine Haubitze. Auf seinem Weg zum Schlafzimmer riss er Möbel um und beschädigte die
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