Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
während die anderen weitergruben und schrittweise das Skelett freilegten – in einer Position, die darauf hindeutete, dass sie in hockender Stellung begraben worden war, als hätte sich der, der sie zur Ruhe bettete, nicht die Mühe gemacht, das Grab groß genug auszuheben. Er hatte einfach nur ein Loch gegraben und sie hineingestopft. In all seiner Grausamkeit bestätigte dieser Umstand nur, wovon der Wanderer immer fest überzeugt gewesen war: Seine Schwester war ermordet worden.
»Eine erste Annahme.« Das war der zweite Ermittler, der sich jetzt über die Überreste beugte. »Das ist zwar nicht ganz mein Revier, aber wenn ich mich nicht völlig täusche, sehen wir hier einen Schädelbruch.«
Aus seinem Blickwinkel sah Niklas nur den Rücken des Ermittlers, doch er spürte, wie ihn wieder das Unbehagen befiel. Irgendjemand hatte einem vierzehnjährigen Mädchen den Schädel zerschmettert, der vergötterten kleinen Schwester in einer gestörten Familie. Doch ihr Verschwinden sollte niemals vergessen werden, dank einem großen Bruder, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, sie zu finden.
Nachdem feststand, dass hier wirklich ein Verbrechen vorlag, gruben sie noch vorsichtiger, und bald waren der Großteil des Skeletts sowie zwei Kleidungsstücke freigelegt.
»Ein Rock. Kariert, würde ich sagen.« Der Ermittler hob behutsam einen schlammigen Stoffballen an. »Ich glaube, die Grundfarbe war dunkel, vielleicht braun oder dunkelgrün. Beim Oberteil bin ich mir nicht ganz so sicher. Eine hellere Strickjacke oder so was.«
Niklas konnte sich nur schwer von den Geschehnissen distanzieren. Lilly Marie war immer noch nicht fertig mit ihrer Geschichte von Andrea und Edmund, aber dass es eine Geschichte war, die nur mit einer Tragödie enden konnte, davon zeugten diese dünnen Knochen überdeutlich.
Wenig später hatten sie die Strickjacke von den Knochen gelöst und mit dem Rock und den Resten dessen, was einmal ein Schuh gewesen war, beiseitegelegt. Noch hatte keiner von ihnen die Knochen angerührt. Brocks hatte sie angewiesen, damit noch zu warten. Der Wanderer sollte einen würdigen Abschied nehmen dürfen.
Eine knappe Stunde später parkte ein Polizeiauto hinter dem Cherokee des Lensmanns, und der Wanderer stieg aus. Ein paar Sekunden blieb er oben stehen und starrte zu den Männern hinunter, dann warf er die Tür hinter sich zu. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er Tag für Tag den Spaten in die Erde gerammt, in dem unerschütterlichen Glauben, eines Tages die sterblichen Überreste seiner Schwester zu finden. Jetzt war der Moment gekommen. Er ging auf die Männer zu, zuerst in energischem Tempo, doch dann verlangsamte er seine Schritte und zögerte. Als er sich dem schlammigen Bereich näherte, setzte er seine Füße mit Bedacht, als fürchtete er, dass ihm ein Fehltritt die Möglichkeit rauben könnte, sie zu sehen. Niklas begriff, dass er den Augenblick hinauszögern wollte. Ein Mann, der kaum mehr etwas anderes getan hatte, als täglich durch solchen Matsch zu stapfen, hätte dieses Schlammfeld eigentlich durchqueren können, ohne nur einmal die Augen auf den Boden zu richten. Knapp zehn Meter vor der Vertiefung blieb er stehen. Seine abgetragene Hose hatte nasse dunkle Flecken unter den Knien, und an seinen Stiefeln klebte der getrocknete Lehm. Seine Pulloverärmel waren dunkel vom Dreck. Niklas begriff, was das zu bedeuten hatte: Er hatte die Erde mit bloßen Händen beiseitegeschaufelt. Den Blick fest auf die Stelle gerichtet und das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse verzerrt, so legte Konrad die letzten Meter zurück. Es schien, als würde er die Menschen um sich herum gar nicht wahrnehmen, in diesem Moment gab es nur ihn und seine Schwester, wie er es sich die ganze Zeit ausgemalt hatte. Es sah aus, als würde dieser Augenblick ihn zusammenschrumpfen lassen: Seine Schultern wurden schmaler, sein Kopf zog sich zwischen die Schultern zurück, der Rücken verlor seine Spannkraft. Dann sank er auf die Knie. Die Nachwirkungen der fünfundzwanzigjährigen Anstrengung waren so heftig, dass ihn seine Beine nicht mehr trugen. Er streckte die Arme aus, während er die Hände hielt, als würde er einen unsichtbaren Ball halten, und Niklas begriff, dass der Mann ihr Gesicht zwischen den Händen hielt, ihre Haut vorsichtig mit den rauen Fingern berührte. »Linea.« Die Stimme war der des Wanderers ganz unähnlich, und Niklas dachte sich, dass er so wahrscheinlich mit ihr geredet hatte – mit
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