Der Mahlstrom: Roman (German Edition)
Tageslicht entgegenstarrte.
Niklas Hultin fror. Obwohl der Wind zu einer fast unmerklichen Brise abgeflaut war und er sich dick angezogen hatte, war ihm eine eisige Kälte unter die Haut gekrochen. In der Nacht war er aus einem Alptraum hochgeschreckt, dem, kaum dass er wieder eingeschlafen war, der nächste folgte. Die Merkmale ihrer Gewebeproben hatten übereingestimmt. Ohne ihm die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden, hatte man ihn zum OP-Tisch geführt, wo er zusah, wie man ihm seine Niere entnahm. Sie wurde ihm entrissen wie ein toter Fötus. Den ganzen Morgen über hatte ihn dieser Traum nicht losgelassen und sich zu einer unangenehmen Vorahnung ausgewachsen. Und jetzt stand er also hier und starrte über die Wiesen auf das, was die Erosion – mit Unterstützung des nächtlichen Unwetters – zutage gefördert hatte.
Er stieg hinunter bis zu der Grasebene. Die letzten Meter waren in einem Schlammmeer implodiert, und er spürte, wie ihm der Matsch in die Schuhe lief. Die Ermittler des Landeskriminalamts standen bereits vor dem Fund, flankiert von Lind und Brocks, und beugten sich über eine Vertiefung. Eine Schulklasse hatte die Überreste gefunden, und ein gelinde gesagt schlotternder Aushilfslehrer hatte sich vor einer knappen halben Stunde bei der Polizei gemeldet.
Der Totenschädel, immer noch halb im Schlamm begraben, war kleiner, als Niklas ihn sich vorgestellt hatte, und er fühlte aufrichtige Trauer für den Wanderer, obwohl der jetzt den Spaten für immer ruhen lassen konnte. Denn dieser Schädel konnte unmöglich jemand anderem gehören als seiner Schwester.
»Ironie des Schicksals.« Das war Brocks, der wie üblich Wohlgerüche um sich verbreitete, diesmal über übelriechendem Moorboden. »Wenn das nicht passiert wäre, hätte er sie mit einem seiner letzten Spatenstiche gefunden. Mit fünfundsechzig oder so.«
»Ich glaube, das hätte er vorgezogen. Ich meine, dass er sie selbst findet.« Niklas sah ihn vor seinem inneren Auge, wie er behutsam die Knochenreste freilegte, während ihm die Tränen über die hohlen Wangen liefen.
Lind nickte zustimmend, bevor er sich an den Ermittlungsleiter des Landeskriminalamts wandte. »Ich gehörte zu denen, die glaubten, dass sie ihr eigenes Verschwinden inszeniert hat. Aber dass sie tatsächlich irgendwo hier begraben liegt …«
»Nach allem, was ich gehört habe, ist hier in neuerer Zeit nur eine Person vermisst gemeldet worden, oder?« Die Stimme des Ermittlungsleiters war ein dröhnender Bariton. »Das bedeutet, wir müssen uns auf das konzentrieren, wovon wir mit Sicherheit wissen, dass es Mord war. Sicherheitshalber möchte ich trotzdem, dass die Kriminaltechniker beim Ausgraben der Knochen helfen. Sie müssten jeden Augenblick hier sein.«
Eine Viertelstunde später wurde die erste Erde weggeschaufelt, zunächst in einigem Abstand vom Schädel. Niklas half, und es dauerte nicht lang, bis ihm die Hände wehtaten. Bald schmerzten auch Rücken und Genick, und sein Spaten ging langsamer. Er stand auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Der Wanderer war älter als er, und der stand jeden Tag draußen und grub in der festen Erde. Wieder traf Niklas die Erkenntnis, wie heftig die Sehnsucht dieses Mannes nach seiner Schwester sein musste. Und wie viel es ihm bedeutete, sie zu finden.
»Ich schätze, wir müssen jemanden zu ihm schicken. Wäre doch zu dumm, wenn er einen ganzen Tag umsonst graben würde.« Lind hatte sich ebenfalls einen Spaten genommen. »Obwohl … ein Tag hin oder her …«
»Wir müssen ihn holen.« Niklas richtete den Blick auf den Schädel, der jetzt aus dem Schlamm freigelegt war, ebenso Teile eines Kleidungsstücks, das sich in der Erde verfärbt hatte. »Wenn sie es ist, wird er die Kleider wiedererkennen.«
Lind beriet sich mit Brocks, bevor er um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden bat. »Ich schätze, wir glauben alle dasselbe«, sagte er und legte eine kurze Pause ein, bevor er fortfuhr. »Dass hier nämlich Konrads Schwester liegt. Jetzt, wo wir schon Teile der Kleidung freigelegt haben, sollte es eigentlich möglich sein, dass er eine vorläufige Identifizierung vornimmt. Wir wissen alle von seiner Besessenheit, wenn ich ein solches Wort gebrauchen darf. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er sich an die Kleidung erinnert, die sie am Tag ihres Verschwindens trug. Ich schlage vor, wir holen ihn gleich her.«
Kurz darauf war ein Mann mit dieser Aufgabe betraut,
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