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Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Der Mahlstrom: Roman (German Edition)

Titel: Der Mahlstrom: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frode Granhus
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angekettet, dem anderen wurde der Arm in fünf Zentimeter Entfernung vor einen Heizstrahler gebunden. Wir reden von Verbrennungen dritten Grades und einer möglichen Amputation.«
    »Um Gottes willen!«
    »Der Polizist, der mich hergeschickt hat, deutete an, dass die Art, wie diese Männer misshandelt wurden, sehr deutlich auf Even verweist.«
    »Ja, um Gottes willen!«
    »Was?«
    »Nichts. Ich missbrauche den Namen des Herrn einfach, so oft es geht. Das ist mein persönlicher Protest dagegen, dass ich meinem Ende entgegensehe.« Der Alte schien sich plötzlich unwohl zu fühlen, und Rino argwöhnte, dass sich sein schlechtes Gewissen meldete, weil er nie eingegriffen hatte. »Es gab da so Gerüchte«, sagte er und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Jemand meinte einmal, er hätte Even unten am See schreien hören. Als der Junge kurz darauf mit Lorents zurückkam, zitterte er, als hätte er gerade auf der Hochspannungsleitung geschaukelt. Die meisten dachten damals, dass da irgendwas vorgefallen sein musste. Jetzt ist mir klar, was es war. Lorents muss dasselbe mit ihm gemacht haben, er hat ihn gezwungen, mit den Händen im Meerwasser zu sitzen. Aber ich wusste damals nur wenig, auch wenn ich mich vielleicht mehr hätte bemühen müssen, etwas herauszufinden. Denn man erzählte sich, dass man die Schreie des Jungen danach noch öfter hörte, und immer vom Bootsanleger.«
    »Lorents wohnt also hier, im selben Flügel?«
    »Zweite Tür links.« Der Alte deutete in die Luft. »Ich bin nicht besonders religiös veranlagt, aber Zimmer 216 kommt für meine Begriffe dem Vorhof der Hölle verdammt nah.«
    »Ist es Alzheimer?«
    »Der hat nicht viel zwischen den Ohren. Hatte er übrigens sein Leben lang nie so wirklich.«
    »Und wenn ich jetzt versuchen würde, mit ihm zu reden?«
    »Wenn es Ihnen Spaß macht, Selbstgespräche zu führen, während Sie jemandem beim Sabbern zuschauen, dann nur zu. Der ist völlig weggetreten.«
    »Ist Even mal hier gewesen?«
    Der Alte grunzte wegwerfend. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Was sollte er hier? Es sei denn, er wollte dem Kerl ein Kissen auf die gemeine Fresse drücken und so lange festhalten, bis das Leben aus diesem Drecksack gewichen ist.«
    In diesem Moment kam Rino der Gedanke, dass die Krankheit des Pflegevaters Even vielleicht davon abgehalten hatte, sich an ihm zu rächen. Wo keine Kommunikation mehr möglich war, gab es auch keine Reue oder Furcht.
    »Tja, dann will ich Sie mal nicht länger stören.« Er hatte die Bestätigung erhalten, wegen der er gekommen war. Jetzt musste er nur noch das gesamte Bild verstehen.
    »Ich habe gehört, dass wieder jemand in das Haus gezogen ist.«
    »Eine nette Frau. Ich war kurz dort, bevor ich hergekommen bin.«
    »Das Haus hätten sie mal lieber gleich dem Erdboden gleichmachen sollen. Ein Teufelsnest, wenn Sie mich fragen.« Sein Gesichtsausdruck verriet, dass der Alte nur zu gern bei den Abrissarbeiten geholfen hätte. »Der Keller auch. Irgendwas sagt mir, dass der Junge da unten den Großteil seiner Kindheit verbracht hat. Damit er Lorents nicht unter die Augen kam.«

25

    Der Regen hämmerte auf die Erde, unaufhörlich und mit ständig wachsender Stärke. Bald konnte die nasse Erde nichts mehr aufnehmen, und es bildeten sich Flüsse, gewaltige Ströme, die alles mitrissen, was ihnen im Weg stand, und die Landschaft neu formten. Wo die Erosion den Boden Millimeter für Millimeter ausgewaschen hatte, bröckelten jetzt große Stücke einfach weg, um mit den Wassermassen in die schäumenden Wellen gezogen zu werden. Noch nie waren mehr Wolken am Himmel, noch nie war es dunkler gewesen. Als könnte nur die Dunkelheit selbst die dunkelste Tat ans Licht bringen.
    In der Stille nach dem Unwetter graute der Morgen. Kleine Rinnsale rannen kreuz und quer, um schließlich auszutrocknen, so dass die neue Landschaft in der Form erstarrte, in der die Nacht sie zurückgelassen hatte. Wo der Wind im Laufe der Jahre weißen Sand über die Grasflächen verteilte, waren neue Erhebungen und Vertiefungen aus dem Lehm gewachsen. Aber noch etwas. Kleine Knochenreste, die auf den ersten Blick so aussahen, als könnten sie von irgendeinem Tier stammen, bei näherem Hinsehen aber eher den Knöcheln einer menschlichen Hand ähnelten. Ein Stückchen weiter längs, wo die Wassermassen eine kleine Schlucht ausgewaschen hatten, war etwas aus der Erde gewachsen, und der Boden teilte sich über einem Totenschädel, der aus leeren Augenhöhlen dem ersten

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