Der Makedonier
gewöhnt, daß sie hofften, sie würde nie enden.
Der ältere der beiden Jungen, Deucalion, hatte bereits offene Augen für die Welt um sich herum, und er war verblüfft von den Unterschieden zwischen Aiane und seiner Heimatstadt, zwischen König Philipp und seinem Vater. Einige dieser Unterschiede erkannte er bereits in seiner ersten Nacht in der elimiotischen Hauptstadt, als er, im Unterschied zu seinem kleineren Bruder, am Festmahl des königlichen Kreises teilnehmen durfte.
»Brüder, laßt mich euch unseren Ehrengast vorstellen«, rief König Philipp, kletterte dabei auf einen Tisch und zerrte den verängstigten Jungen hinter sich her. »Dieser prächtige Junge hier ist Prinz Deucalion, der Sohn und Erbe von Aias, dem König der Eordioten. Laßt ihn uns freundlich in unserer Mitte aufnehmen, denn er hat das Zeug zu einem Makedonier. Was sagt ihr, ist er nicht alt genug, um mit den Männern zu essen?«
Der Vorschlag wurde jubelnd angenommen, und dann folgte eine außergewöhnliche Aufnahmezeremonie, in deren Verlauf der König und seine Edelleute den Jungen abwechselnd im Saal herumtrugen. Danach war Deucalion so außer sich vor Glück und Stolz, daß er, hätte man es von ihm verlangt, mit Freuden sein Leben für König Philipp hingegeben hätte.
So etwas wäre ihm zu Hause nie passiert. Denn während König Philipp so viel Vertrauen in seine Edelleute zu haben schien, daß sie es wagen konnten, zu sagen, was sie dachten, und ihn als Mann unter Männern, als Ersten unter Gleichen, aber dennoch als Ihresgleichen zu behandeln, wurde am Hof seines Vaters der König nahezu wie ein Gott verehrt, und das von Männern, die andauernd Ränke gegen ihn schmiedeten.
Deucalion wußte, daß er eines Tages seinem Vater als König nachfolgen würde, aber als König von was? Aias war kaum mehr als ein Stammeshäuptling und ständig von seinen Edelleuten bedroht, von denen jeder seine eigene Gefolgschaft hatte, die nur ihm und seinen ehrgeizigen Zielen treu waren. Jeder von diesen konnte planen, den König abzusetzen. Es war nicht einmal sicher, ob Aias die Krise seiner Niederlage gegen die Elimioten überleben, ob er überhaupt in der Lage sein würde, die Krone an seinen Sohn weiterzugeben. Deucalion war deshalb, als er merkte, daß seine Gastgeber ihn nicht mißhandeln würden, sehr froh, von Eordaia weg zu sein, denn dort würde er, falls sein Vater gestürzt wurde, mit Sicherheit ermordet werden.
Wie anders war doch die Stimmung am Hof der Elimioten, wo alle Macht von einer einzigen Quelle auszugehen schien, wo jeder, ob Edelmann oder einfacher Soldat, ein treuer Diener des Königs war. Das war keine Macht, die sich wie eine Schlange, die man zu weit hinten faßte, umdrehte und die Hand biß, die sie hielt. Das war eine Macht, die der Sicherheit aller diente.
Und wie anders war König Philipp.
Deucalion hätte nicht sagen können, wie lange er schon wußte, daß sein Vater von vielen gehaßt wurde. Ein solches Wissen ist wie ein Mosaik, das sich im Bewußtsein Stück für Stück zusammensetzt, bis allmählich, in einer Entwicklung, die viel zu langsam und zu verschlungen abläuft, um sie erkennen zu können, in groben Umrissen die Wahrheit zutage tritt. Er wußte einfach, daß alle, von den Edelleuten bis zu den Sklaven, die das Pflaster des Palasthofes fegten, den König mit einer Mischung aus Haß und Angst ansahen. Hätte er darüber nachgedacht, wäre ihm wohl aufgefallen, daß gehaßt und gefürchtet zu werden eine ganz normale Folge des Königseins ist. Wie sollte es denn anders sein, wenn Männer niemandem außer der Macht gehorchen, die sie sonst vernichten würde. Soeine Macht kann einen Mann nur grausam machen, da er grausam sein muß, wenn er sie behalten will. »Jeder ist neidisch«, hatte sein Vater einst zu Deucalion gesagt. »Jeder würde am liebsten meinen Platz einnehmen – du wirst das noch deutlich zu spüren bekommen, wenn du selbst König bist.«
Aber Philipp sagte, daß Grausamkeit ein Eingeständnis der Schwäche sei, daß Männer nur grausam seien, wenn sie sich fürchten. »Wenn du einem Mann Angst einjagen mußt, damit er dir gehorcht, wird er dich bei der ersten Gelegenheit verraten. Und früher oder später wird er diese Gelegenheit bekommen. Treue erreicht man nicht, indem man Knochen bricht.«
Er peitschte nicht einmal seine Soldaten aus. Als Deucalion ihn fragte, warum nicht, schien er die Frage nicht zu verstehen. »Warum sollte ich sie denn auspeitschen? Sie geben ihr Bestes.
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