Der Makedonier
Jeder Mann weiß, daß sein Überleben in der Schlacht vom Mut und der Geschicklichkeit seines Nebenmannes abhängt. Das genügt.«
Und das stimmte auch. Für Philipps Soldaten – sie nannten sich selbst so: »Philipps Soldaten« – war es eine Schande, für nachlässig gehalten zu werden. Ja, sie betrachteten es als Ehre, in den ersten Reihen zu kämpfen. »Denn dort kämpft unser König«, pflegten sie zu sagen.
Unser König. So nannten sie ihn, diesen Fremden, diesen Tieflandmakedonier: »Unseren König.« Kein Soldat war so gering, daß Philipp nicht seinen Namen und den seiner Kinder kannte. Männer, die doppelt so alt waren wie er, schienen ihn zu lieben wie ein Sohn seinen Vater. Er war ihr ganzer Stolz, denn sie spürten, daß er stolz war auf sie.
Für Deucalion und seinen kleinen Bruder verwandelte sich König Philipp bald von einem gefürchteten Feind und Geiselnehmer zu einem Freund und schließlich zu etwas beinahe Gottgleichem.
Sie verehrten ihn, als wäre er einer der großen Sagenhelden, der ins Leben zurückgekehrt war, um ihnen zu zeigen, wie man die Sandalen richtig bindet. Jeden Morgen frühstückten sie mit dem König, und danach nahm er sie oft mit zum Exerzieren mit seiner unbesiegbaren Armee. Er hatte sogar einen Lehrer aus Athen kommen lassen, der ihnen an der llias das Lesen beibrachte, denn er sagte, ein Krieger müsse ebenso wie ein Herrscher gelernt haben, kein Wilder zu sein.
Philipp war wie ein älterer Bruder für sie, ja fast wie ein zweiter Vater, und so kam ihnen nie der Verdacht, daß hinter seiner Freundlichkeit politische Absicht steckte, daß er in ihnen Treue erwecken wollte zu seiner Person und zu seiner Vorstellung von einem geeinten Makedonien, in dem Eordaia eines Tages nicht mehr als eine Provinz sein würde.
In Pella aber verlor Perdikkas, der König aller Makedonier, keinen Gedanken an diesen größeren, geeinten Staat, den sein Bruder sich vorstellte. Perdikkas dachte an die Athener.
Athen führte Krieg mit dem Chalkidischen Bund und hatte bereits zwei Städte am Thermäischen Golf eingenommen, Pydna und Methone. Diese beiden waren seit Menschengedenken griechische Handelsposten und hatten nie eine Gefahr dargestellt, obwohl sie nur einen Tagesmarsch von der alten Hauptstadt Aigai entfernt lagen. Doch jetzt, da eine Athener Flotte in ihren Häfen ankerte, ergab sich eine ganz neue Lage. Jetzt forderten die Athener ein »Bündnis«, was bedeutete, daß Perdikkas ihnen zur Unterstützung ihres Feldzugs gegen Amphipolis Reiter schicken sollte. Das war Erpressung, denn was würde Makedonien dafür bekommen, auch wenn Athen siegte? Perdikkas aber wußte, daß er kaum eine andere Wahl hatte.
Doch der Chalkidische Bund stand in enger Verbindung mit den Thrakern, und früher oder später würdeTheben sich auf ihre Seite schlagen, was Krieg zwischen Athen und Theben bedeutete. Eigentlich unterstützte Perdikkas Theben, da seinem Reich von dort weniger Gefahr drohte. Er lieferte ihnen sogar Bauholz für die Flotte, die Epameinondas im Frühjahr vom Stapel lassen wollte. Damit mußte er nun aufhören. Er wollte zwar nicht, daß Athen im oberen Golf einen starken Stützpunkt errichtete, aber er konnte es sich einfach nicht leisten, die Athener zu verärgern, solange sie ihn so direkt bedrohten.
Also würde Athen makedonische Reitertruppen bekommen, und Epameinondas würde sich sein Schiffsholz woanders suchen müssen. Das war der Preis des Friedens. »Wenigstens kann mein König, sollte das Glück sich gegen Athen wenden, das Bündnis ohne schlechtes Gewissen brechen. Denn früher oder später betrügen die Athener ihre Freunde immer.«
Perdikkas sah vom Brief des Athener Admirals Timotheos auf. Wie immer lächelte Euphraeos, als ihre Blicke sich trafen, und vermittelte dabei den Eindruck, als machte sein Magen ihm Schwierigkeiten. Und tatsächlich litt der kleine Athener entsetzlich an seiner Verdauung.
Euphraeos war ein Schüler Platons, und ursprünglich war er als Lehrer für Philosophie und Regierungskunst in die Dienste des makedonischen Königs getreten. Ptolemaios hatte geglaubt, seinen Stiefsohn damit bei Laune halten zu können, aber Perdikkas hatte nie Spaß am Lernen gefunden. Erst nach dem Tod des Regenten hatte dieser nun schon nicht mehr ganz junge Sophist begonnen, Eindruck auf den neuen König zu machen, der in ihm eine Fülle von Wissen auch über weniger philosophische Themen entdeckte. Seitdem war er im Dienst seines Herrn aufgestiegen, bis er
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