Der Makedonier
einem Diener in einen kleinen, ummauerten Garten geführt wurde, in dem der Hausherr frühstückte, fiel der Empfang nicht gerade herzlich aus.
»Wie viele Jahre ist es her?« fragte Arrhidaios ohne Umschweife. Als Aristoteles nichts erwiderte, lächelte er dünn.
»Sechs oder vielleicht sogar sieben.« Arrhidaios beantwortete sich die Frage selbst. »Ich glaube, ich habe deshalb das Recht, ein wenig überrascht zu sein.«
»Du bist nicht mehr überrascht als ich.« Ohne eine Einladung abzuwarten, setzte Aristoteles sich auf die Marmorbank neben dem winzigen Brunnen in der Mitte des Gartens. »Du bist natürlich beleidigt, weil ich dich die ganzen Jahre gemieden habe, aber unter den gegebenen Umständen ist das ziemlich kindisch von dir. Pella ist zwar nicht Athen, aber ich lege großen Wert auf die Freiheit, ab und zu dorthin zurückkehren zu können. Ich kann es mir nicht leisten, die Vorurteile der Mächtigen zu mißachten.«
»Warum bist du dann jetzt hier?«
»Weil die Mächtigen mich geschickt haben.«
Arrhidaios war so verblüfft, daß er, ohne lange nachzudenken, eine Schale mit Wein vollgoß und sie Aristoteles gab.
»Und wie gefällt es Philipp, König zu sein?« fragte er, als er seine Fassung wiedergefunden hatte.
Aristoteles kostete den Wein und verzog das Gesicht.
»Ich habe nicht den Eindruck, daß er so persönliche Gefühle mit seinem Amt verbindet«, erwiderte er, undseine Antwort klang fast wie ein Tadel. »Er ist sehr tatkräftig, aber das war er ja immer schon. Ich würde sagen, er ist so wie immer.«
»Aber ein Mann müßte doch aus Holz sein, wenn ein solcher Ruhm ihm keine Freude bereitet.«
»Ich glaube, er würde seinen ganzen Ruhm gegen die Verpflegung seiner Armee für nur einen halben Monat eintauschen. Du kennst ihn doch. Stolz war er noch nie. Man merkt kaum, daß er König ist.«
Als Arrhidaios begann, beinahe verächtlich zu lächeln fügte Aristoteles nur hinzu: »Und doch glaube ich, daß er mehr wirkliche Macht hat als sogar sein Vater. Überrascht dich das? Die Männer nennen ihn vielleicht immer noch Philipp, aber sie gehorchen ihm, so wie sie atmen, ohne darüber nachzudenken.«
»Und was will er von mir?«
»Ich habe keine Ahnung.« Aristoteles starrte ins Leere, als er das sagte. »Er ist ein König, vergiß das nicht. Er hat mich in dieser Angelegenheit nicht ins Vertrauen gezogen.«
Aus den Falten seiner Tunika zog er eine kleine Schriftrolle und gab sie Arrhidaios, der sie lange anstarrte, bevor er sie entgegennahm. Die Rolle war mit dem Siegel Makedoniens verschlossen. Als Arrhidaios es erbrach, sah er, daß das Pergament mit Philipps flüchtig hingeworfener Handschrift bedeckt war.
»Ich werde dich jetzt verlassen«, murmelte Aristoteles, und es klang, als hätte er eben den entscheidenden Punkt errungen und genösse nun seinen Triumph. »Ich bin mir sicher, daß du jetzt allein sein willst.«
Arrhidaios allerdings blieb eine ganze Weile allein, bevor es ihm in den Sinn kam, diesen Brief vom König der Makedonier zu lesen. In gewisser Weise fürchtete er sich beinahe davor, den Inhalt zu erfahren.
Doch schließlich rollte er das Pergament auf.
»Mein geliebter Freund und Bruder«, begann Philipp – ei n vielversprechender Anfang, dachte Arrhidaios, denn wenigstens begann der Brief nicht wie eine königliche Verfügung oder eine Verurteilung –, »ich möchte, daß du von mir erfährst, was du, wie ich hoffe, auch gewußt hättest, ohne es gesagt zu bekommen, daß es dir nämlich freisteht, ohne Angst nach Pella zurückzukehren. Du wirst natürlich vor der Versammlung erscheinen müssen, da nicht einmal ein König die Macht hat, die Anklage, die gegen dich erhoben wurde, zu verwerfen, aber jeder weiß, daß du mit Alexandros’ Tod nichts zu tun hattest, und ich brauche nur zu sagen: >Dieser Mann wurde zu Unrecht beschuldigt, und ich habe volles Vertrauen in seine Unschuld<, damit die Anklage fallengelassen wird. Du hast nichts zu befürchten, da dein Prozeß nur eine Formsache sein wird, aber den Buchstaben des Gesetzes muß Genüge getan werden. Ist das einmal erledigt, wirst du deinen Besitz zurückerhalten, und du wirst das Leben wiederaufnehmen können, zu dem dein Rang dich berechtigt. Und ich werde, soweit es in meiner Macht steht, dich für das erlittene Unrecht entschädigen.«
Arrhidaios ließ den Brief sinken, und er war froh, daß niemand ihn sah, denn die Tränen stiegen ihm in die Augen, als er spürte, wie sehr doch die Last der acht
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