Der Makedonier
Aber das war nichts anderes als der Protest eines leeren Magens. Er mußte aufpassen, das nicht mit Angst zu verwechseln.
Um sich abzulenken, dachte er deshalb über die Straße nach, auf der er ritt. Es war dieselbe Straße, die ihn ins Exil geführt hatte. Auf dieser Straße hatte er gelernt, was es heißt, einsam zu sein.
Zunächst waren er und Archelaos zusammengeblieben, nachdem sie zwei Stunden vor Tagesbeginn aufgebrochen und sehr schnell geritten waren, für den Fall, daß Ptolemaios Suchtrupps hinter ihnen herschickte. Sie waren erschöpft gewesen, als sie Aigai erreichten.
»Hier müssen wir uns trennen«, hatte Archelaos ihm damals in der Dunkelheit des Zimmers zugeflüstert, in dem sie diese Nacht verbracht hatten. »Sie suchen nach zwei Reitern, und deshalb werde ich morgen früh nach Westen reiten und du nach Süden. In Athen können wir uns dann wiedersehen.«
Arrhidaios würde nie vergessen, welche Angst er damals gehabt hatte, welchen Schrecken ihm die Stimme seines Bruders, die so körperlos klang, als wäre er bereits ein ruheloser Schatten, eingejagt hatte.
Am nächsten Morgen war er also allein weitergeritten, auf dieser Straße. In Athen hatten sie sich nicht wiedergesehen, denn Archelaos war in Korinth gestorben. Arrhidaios wußte nicht einmal, wo er begraben lag.
Ein Reiter von einem der Voraustrupps kam über die Kuppe des Hügels vor ihnen auf sie zu. Er ritt schnell, und Timoleon, der direkt hinter dem zukünftigen König Stellung bezogen hatte, löste sich aus der Kolonne und galoppierte ihm entgegen.
Als er zurückkehrte, war sein Gesicht starr und ausdruckslos.
»Die Tore von Aigai sind geschlossen«, sagte er, nachdem er so nahe an Arrhidaios herangeritten war, daß ihre Knie sich beinahe berührten. »Anscheinend hat man sie vor uns gewarnt.«
Das hatte nichts zu bedeuten, sagte sich Arrhidaios. Es war doch nur natürlich, daß der Garnisonshauptmann, wenn er erfuhr, daß eine Armee von drei- oder viertausend Mann auf der Küstenstraße zur Stadt unterwegs war, sich in seine Mauern zurückzog. Er konnte ja nicht wissen, um wen es sich handelte.
»Wahrscheinlich haben sie Spitzel in Methone«, fuhr Timoleon fort. »Ich habe nirgends Späher bemerkt. Und es ist auch ein wenig verwunderlich, daß wir auf der Straße kaum jemandem begegnet sind.«
»Sie würden doch die Tore auch schließen, wenn sie wüßten, wer wir sind. Sie wollen nur in der Lage sein, uns zu einem Feilschen um ihre Unterstützung zwingen zu können.«
»Das ist bestimmt der Grund dafür.«
Timoleon klang allerdings nicht so, als würde er es glauben.
Auf der Hügelkuppe angelangt, konnten sie sehen, wo die Straße einen Bogen landeinwärts machte, und in einiger Entfernung erblickten sie Aigai, das so verschlossen aussah wie die Geldtruhe eines Kaufmanns. In einer Stunde würden sie es erreichen.
»Wir werden es bald wissen«, sagte Timoleon.
Es war Nachmittag, als sie in Rufweite der Stadtmauern kamen, und noch immer war kein Abgesandter durch die Tore geritten, um sie zu empfangen. Aber erst, als sie bereits so nahe waren, daß sie die Gesichter der Männer auf der Brustwehr erkennen konnten, befielen Arrhidaios erste Zweifel.
Ich kenne ihn, flüsterte er in seiner Seele, als er zu dem M ann hochsah, der mit verschränkten Armen auf der Mauer stand. Es war ein Mann von mittleren Jahren, mit gerötetem Gesicht und grimmiger Miene, und er trug einen Soldatenumhang. Er war der Befehlshaber der Garnison. Ich kenne ihn, er war in der königlichen Garde in Pellet, als ich noch ein Kind war.
»Epikles«, rief Arrhidaios. »Epikles! Erkennst du mich denn nicht?«
Einen Augenblick blieb alles still.
»Ich erkenne dich«, kam schließlich die Antwort. »Du bist Prinz Arrhidaios. Du hast dich davongestohlen wie ein Dieb, und jetzt kehrst du an der Spitze einer Armee zurück. Was willst du?«
»Komm herunter zu mir, denn einige Dinge lassen sich besser im vertraulichen Gespräch erklären. Ich stehe für deine Sicherheit ein.«
»Meine Soldaten stehen für meine Sicherheit ein. Ich frage dich zum letztenmal: Was willst du?«
»Darauf mußt du antworten, Herr«, flüsterte Timoleon Arrhidaios ins Ohr. »Jetzt ist der Augenblick, in dem du so beredt sein mußt wie noch nie in deinem Leben.«
Ja, es war wirklich der entscheidende Augenblick. Und Arrhidaios spürte, wie ihm die Knie weich wurden.
»Ich möchte euch die Freiheit bringen, Epikles«, rief er und merkte dabei, wie hohl seine Stimme klang.
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