Der Makedonier
– als würde sie schon bei der leisesten Berührung anfangen zu bluten. Es gab keine Zärtlichkeit mehr in der Welt.
»Kommst du oft hierher?«
Er hob den Kopf und bemerkte erstaunt, daß Arsinoe nur wenige Schritte von ihm entfernt stand. Bevor er etwas sagen konnte, kam sie auf ihn zu und kniete sich neben ihn, so daß ihre wehenden Haare seine Schulter berührten.
»Meine Mutter liegt nicht weit von hier begraben«, sagte sie. »Ich habe dich gesehen und…«
»Ist sie schon lange tot?«
»Meine Mutter? Ja, schon über ein Jahr.«
»Schmerzt es dich noch immer?«
Anstatt zu antworten, legte Arsinoe ihm die Hand auf den Arm.
»Und wer liegt hier?« fragte sie.
»Meine… Die Frau, die mich aufgezogen hat. Sie hieß Alkmene. Sie starb, als ich bei den Illyrern war.«
Philipp hatte die größten Schwierigkeiten, beim Sprechen die Fassung zu wahren. Er liebte Arsinoe – zumindest nahm er an, daß dieses merkwürdige Gefühl, das ihn quälte, so oft er sie sah, Liebe war. Doch im Augenblick wünschte er sich nur, sie würde weggehen, da ihre Anwesenheit alles nur noch unerträglicher machte. Gleichzeitig aber war ihm, als müßte er sterben, wenn sie ihn jetzt verließ, als würde er einfach bersten wie ein Stein, denEis, das in eine winzige Ritze eingedrungen ist, spaltet. Er spürte die stärkste Versuchung, sich einfach in ihre Arme zu werfen und zu weinen wie ein Kind, wie Alkmenes Kind, doch er wußte, sie würde ihn dafür verachten. Er würde sich selbst dafür verachten.
Also tat er nichts. Er wartete nur, unfähig, sie anzusehen, bis sie sein Schicksal besiegelte.
»Willst du mit mir sein?« fragte sie.
Zuerst verstand er nicht, was sie meinte. Fragte sie ihn, ob er wollte, daß sie blieb? Wie konnte er das beantworten, wenn er es selbst nicht wußte? Dann spürte er, wie ihre Hand in den Halsausschnitt seiner Tunika glitt.
»Willst du mit mir sein?«
Sie küßte ihn auf die Lippen, und die Lust wallte so heftig in ihm auf, daß er kaum noch atmen konnte.
»Du mußt nicht allein sein, Philipp, denn ich liebe dich.«
Die Nacht war hereingebrochen, und der Friedhof war leer. Sie waren allein in der schützenden Dunkelheit, vor allen Blicken verborgen, aber das war ihnen gleichgültig. In diesem Augenblick lebten nur sie beide. Die Welt außerhalb ihrer Körper war weniger als ein Schatten.
Sie nahm seine Hände in die ihren und führte sie zu ihren Brüsten. Dann legte sie ihm die Arme um den Hals und zog ihn an sich.
Während sie sich auf dem kühlen Gras liebten, schien ihre Seele in ihn zu fließen, wie Wein in Wasser, und er wurde zu einem anderen, zu einem, der ihm selbst fremd war, erlöst von seiner Last, das Herz wieder lebendig in seiner Brust, gottgleich, gesegnet mit einem Glück, das nie vergehen würde.
»Ich liebe dich«, flüsterte er, und die Worte gingen ihm so leicht von den Lippen, als würden sie sich selbst sprechen. »Ich will für immer nur noch so sein. Ich werde dich nie verlassen.«
14
ES WAR KURZ nach Mittag, als Philipp zum ersten mal Theben erblickte. Noch war die Stadt über eine Stunde entfernt, er konnte deshalb kaum mehr erkennen als die Mauern, die im hellen Sonnenlicht glänzten wie polierter Marmor.
Nach zwei Tagen auf einem stampfenden Schiff hatten Philipp und seine Eskorte die Hafenstadt Rhamnus beim ersten Tageslicht verlassen. Einen großen Abschied hatte es in Pella nicht gegeben, denn er war mitten in der Nacht von einem Palastboten geweckt und direkt zu Ptolemaios gebracht worden.
»Du wirst wieder auf Reisen gehen«, sagte ihm der Regent. »Im Morgengrauen wird ein Schiff nach Böotien auslaufen, und du wirst an Bord sein. Theben wird dir gefallen, Philipp. Das Klima ist angenehm, und ein junger Mann, der ein Krieger werden will, kann dort viel lernen. Es wird dir guttun.«
Philipp dachte an Arsinoe, deren Küsse er noch auf seinen Lippen schmeckte, und es war ihm, als würde ihm ein Eiszapfen durchs Herz gestoßen werden.
»Ich will aber Pella nicht verlassen. Ich bin es müde, herumgeschickt zu werden wie diplomatische Post. Schicke einen anderen.«
»Es gibt keinen anderen. An Küchensklaven haben die Thebaner kein Interesse.«
»Du hast kein Recht, das zu tun, Herr. Ich werde mich an den König wenden.«
»Ich spreche im Namen des Königs, Philipp. Der König wird dich nicht empfangen; der König wird noch schlafen, wenn du schon außer Sicht des Festlandes bist.«
Philipp brauchte nur das Lächeln des Regenten zu sehen, um
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