Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
von Kunst verstand, um zu erkennen, dass an der Wand des Refektoriums etwas Einzigartiges im Entstehen begriffen war, und da er außerdem mit dem kapriziösen Charakter mancher Künstler vertraut war, hatte er sich seine Verärgerung verkniffen und hielt sich seither von der Kirche fern, wenn Leonardo gerade dort arbeitete. Er zahlte es ihm freilich damit heim, dass er regelmäßig »vergaß«, die vereinbarten Honorare zu zahlen. Er hoffte wohl auch, Leonardo damit zur zügigen Fertigstellung anzutreiben, doch das war wie gewöhnlich eine eitle Hoffnung.
Auch Prior Vincenzo beunruhigte es zunehmend, dass Leonardo des Öfteren eine Woche lang oder gar noch länger seiner Arbeit fernblieb. Wie es sich für einen Dominikaner gehörte, legte er Wert auf Ordnung und Disziplin, und da Leonardo sich darum offensichtlich nicht scherte, kam es eines Tages zwangsläufig zu einer Konfrontation.
Leonardo hatte sich tagelang nicht blicken lassen, und als er wieder im Refektorium auftauchte, hielt er sich unerhört lange mit dem scheinbar unsinnigen Mischen von Farben auf, als suche er nach einer, die noch erfunden werden musste. Als er endlich mit dem Resultat zufrieden zu sein schien, stieg er auf das Gerüst, brachte einige kaum sichtbare Pinselstriche am Haar hinter dem rechten Ohr des Apostels Petrus an, trat einen Schritt zurück, um das Ergebnis zu begutachten, warf Palette und Pinsel wieder hin und kam vom Gerüst herunter.
»Darf ich fragen, wohin das führen soll, Meister da Vinci?«
Als Leonardo den unfreundlichen Ton des Priors hörte, schaute er auf, verwirrt, aus tiefsten Gedanken aufgestört. »Das Fragen kann ich Ihnen nicht verbieten«, entgegnete er mürrisch.
Vincenzo lief sichtlich rot an. »Wissen Sie überhaupt, wem Sie diesen Auftrag zu verdanken haben, den Sie nun so endlos in die Länge ziehen?«
»Möchten Sie den Auftrag anderweitig vergeben? Dann sollten Sie nur ja nicht zu lange damit warten!«
Der Prior verstummte für einige Augenblicke, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er erschrocken war. »Versuchen Sie doch bitte, meine Ungeduld zu verstehen, Meister. Die Renovierungsarbeiten an der Kirche sind seit Monaten abgeschlossen, Meister di Montorfano hat sein Fresko längst fertiggestellt, und Sie…«, der Prior verstummte erneut und blickte auf das entstehende Cenacolo . Halbfertige Apostel in den unterschiedlichsten Haltungen, eine lange, weißgedeckte Tafel mit Brot und Wein, die Umrisse der Christusfigur vor einem hellen Fenster…
»Fahren Sie ruhig fort«, forderte Leonardo ihn auf, als der Satz in der Schwebe blieb.
Der Prior schien aus seiner vorübergehenden Erstarrung zu erwachen. »Man hatte uns gewarnt, dass Sie Vereinbarungen gerne missachten.« Er schüttelte den Kopf. »Aber dass es so schlimm werden würde!«
»Wissen Sie, was mich unendlich viel Zeit kostet, Hochwürden? Modelle für die Gesichter der Apostel zu finden.«
Ohne es zu wollen, stieß der Prior ein verwundertes »Ach, wirklich?« aus.
Leonardo nickte ernst. »Vor allem der Judas mit seiner teuflischen Hinterhältigkeit ist schwierig. In ganz Mailand scheint es niemanden zu geben, dem das ins Gesicht geschrieben steht.« Er fasste dem Prior unvermittelt unter das Kinn, als habe er eine Eingebung, und drehte dessen Gesicht ins Licht. »Dass ich das nicht schon früher gesehen habe! Sie wären das perfekte Modell für den Judas!«
Es dauerte einen Moment, bis der Prior erfasst hatte, was Leonardo damit sagen wollte. Dann aber drehte er sich ruckartig um und rauschte davon. »Das wird Ihnen noch leidtun!«, drohte er, bevor er die Tür des Refektoriums laut hinter sich zuschlug.
»Pater Vincenzo kann ziemlich unangenehm werden, wenn man seinen Zorn erregt, Meister da Vinci.«
Irritiert schaute Leonardo zu dem Jungen in Kutte, der auf einem Bretterhaufen an der Ostwand des Refektoriums hockte. Matteos Stammplatz, von wo er die Arbeiten am Wandgemälde beobachten konnte, ohne jemanden zu stören.
»Ich auch«, erwiderte Leonardo. »Wenngleich mich gewiss ganz andere Dinge erzürnen.«
Kurzsichtigkeit zum Beispiel ärgerte ihn sehr. Insbesondere die Kurzsichtigkeit von Leuten, die noch nie etwas von Kreativität gehört hatten und trotzdem glaubten, ihre bornierten Vorstellungen zur Norm für alle anderen machen zu können. Es war keine Schande, wenn man nicht zu tiefem Nachdenken fähig war, ein Pferd konnte ja auch nichts dafür, dass es nichts von Mathematik verstand. Aber wer trotz seiner geistigen
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