Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
vor Augen habe.«
»Das überrascht mich in der Tat. Aber ansonsten…«
»Sie dürfen das auf keinen Fall persönlich nehmen, ich sehe Sie einzig und allein von meiner Warte als Künstler. Und bedenken Sie, dass Sie auf diese Weise verewigt werden.«
Leonardo wartete keine weitere Reaktion des Prokurators ab, sondern trat auf das Haus zu und öffnete die Tür. Im Innern roch es muffig, als sei schon länger nicht mehr gelüftet worden. Der Prokurator ging eilfertig ums Haus herum und klappte die Fensterläden auf, um Licht einzulassen. Dann kam er herein und öffnete die Fenster. Er tat das mit ausladender Gestik, als wolle er seinen Besitz einem potenziellen Käufer vorführen.
Leonardo musste zugeben, dass das Haus gar nicht schlecht war. Geräumig und hell und recht komfortabel. Und was ihm vor allem gefiel, war, dass es dank des Weinbergs von der Umgebung abgeschirmt war. Weder die Stadt noch die nächste größere Einfallstraße für Handel und Reisende waren von hier aus sichtbar. An den Weinberg grenzte noch ein Nachbargrundstück mit Wohnhaus, wie der Prokurator erzählt hatte, doch auch davon war fast nichts zu sehen. Ein Adliger wohnte dort – vielleicht liebte auch er seine Ruhe.
»Ich glaube, wir können uns einig werden«, konstatierte Leonardo.
Trotz dieser für Leonardo so vielversprechenden Übereinkunft änderte sich an seiner Arbeitsweise im Refektorium wenig. Es blieb bei sporadischen Ausbrüchen großen Schaffensdrangs, auf die dann wieder Phasen folgten, in denen er scheinbar nichts tat. Aber nur scheinbar, denn das gewaltige Wandgemälde ging ihm nie ganz aus dem Kopf. Selbst wenn er schlief, konnte ihn ein innerer Antrieb plötzlich hochfahren lassen, und dann eilte er mitten in der Nacht, manchmal kaum bekleidet, ins Refektorium, um im unsteten Licht einer Öllampe einige Pinselstriche anzubringen. Pinselstriche, die der Miene oder Geste eines der Apostel genau das winzige Etwas mehr an Ausdruck verliehen, das später einmal den ahnungslosen Betrachter schwören ließe, der Dargestellte habe bestimmt gerade etwas sagen oder tun wollen.
An einem jener Tage, da Leonardos Tatkraft unerschöpflich zu sein schien und er von früh bis spät bei der Arbeit war, bekam er im Refektorium unerwarteten Besuch.
Leonardo malte gerade mit größter Sorgfalt an einem angebissenen Stück Brot, das wie achtlos beiseitegeworfen auf der Abendmahltafel lag, als er hinter sich jemanden sagen hörte:
»Beim letzten Abendmahl soll ja tüchtig geschlemmt worden sein. Ich glaube, ich würde keinen Bissen hinunterbekommen, wenn ich wüsste, dass es das letzte Mal ist. Ach nein, aber das wusste ja nur der große Prophet! Die Bibel war noch nie meine Stärke.«
Leonardo drehte sich um. Er stutzte, als er den jungen Mann sah, der großspurig, die Hände in die Seiten gestemmt, mitten im Refektorium stand und sich seine Arbeit ansah. »Habe ich Sie nicht schon einmal gesehen?«
»Michelangelo Buonarroti, Meister da Vinci. Ich war vor ein paar Jahren bei Ihnen in der Corte Vecchia, um mir Ihr todgeweihtes Riesenpferd anzusehen. Ich weiß immer gern, was die sogenannte Konkurrenz gerade macht.«
»Ziemlich große Töne für einen so jungen Mann!«
»Oh, ich habe mich als Maler und Bildhauer schon bestens ausgewiesen. Der hochwohlgeborene Lorenzo de’ Medici hat mir seine Gunst gewährt, bis die Franzosen ihn aus Florenz vertrieben. Und mein künstlerischer Lehrer war Domenico Ghirlandaio.«
»Und jetzt arbeiten Sie hier in Mailand? Wie kommt es da, dass hier niemand Ihren Namen zu kennen scheint?«
»Ich wohne und arbeite derzeit in Bologna. Nur Geduld, Meister da Vinci, mein Name und mein Ruhm werden sich auch hier noch früh genug herumsprechen.«
Bevor Leonardo nach Luft schnappen und etwas Passendes erwidern konnte, deutete Michelangelo auf das Wandgemälde und sagte: »Ich stelle fest, dass Sie nicht, wie es sich gehört, auf noch nassen Putz malen. Darf ich fragen, warum?«
»Weil ich mit einer Mischung aus Tempera und Öl male, um geruhsamer arbeiten zu können. Außerdem kann ich so notfalls Teile übermalen.«
»Hm, die Luft hier scheint mir aber recht feucht zu sein, haben Sie da keine Angst, dass…«
»Ich bin nicht gewillt, Ihnen technische Erläuterungen zu meiner Arbeitsweise zu geben, Meister Michelangelo.«
»Nein, das kann ich mir vorstellen«, erwiderte dieser mit leisem Schmunzeln. Er machte Anstalten zu gehen.
»Warten Sie!«
Als Michelangelo abwartend stehen blieb, legte Leonardo
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