Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
geschrieben steht… »Dieser Teufelsbraten!«, murmelte Leonardo mit einer Zärtlichkeit, wie sie auch Salaì oft in ihm weckte.
Er verließ die Kirche, um vorerst nicht wiederzukehren.
Leonardo starrte auf das Loch in der Erde, in das soeben der Leichnam seiner Mutter hinuntergelassen worden war. Sie war schon mehrere Tage tot gewesen, als er sie auf dem Fußboden neben ihrem Bett gefunden hatte. Sie hatte auf dem Bauch gelegen; möglicherweise war sie vornübergekippt, als sie sich zum Beten niedergekniet hatte. Er hatte niemandem einen Vorwurf gemacht, dass Caterinas Tod so lange unbemerkt geblieben war. Auch sich selbst nicht. Caterina war während ihres Aufenthalts in der Corte Vecchia praktisch unsichtbar gewesen. Sie hatte sich strikt an ihr Versprechen gehalten, niemandem im Weg zu sein. Und so hatten sie sich auch nicht gleich gefragt, wo sie denn war, als sie tagelang nicht auftauchte.
Wie schon einmal verspürte Leonardo ein eigenartiges Unbeteiligtsein, als handelte es sich hier um jemanden, den er kaum gekannt hatte. Und so war es im Grunde auch. Die Bedeutung der Blutsverwandtschaft wurde viel zu schwer gewichtet. Was zählte, war, was man gemeinsam erlebt hatte, wie sich Lebensläufe mit den Jahren verwoben. Dagegen war es reiner Zufall, wer einem das Leben geschenkt hatte, ein gewünschtes oder unerwünschtes Resultat eines Augenblicks der Leidenschaft oder Unbesonnenheit. Oder einfach des blinden Fortpflanzungstriebs wie bei den Tieren.
Er selbst, Zoroastro, Salaì und die beiden Totengräber – nicht einmal ein halbes Dutzend gleichgültiger Zeugen, die der bescheidenen Beerdigung der Frau beiwohnten, die ihn geboren hatte.
Und dann wehte Leonardo doch plötzlich ein schwacher Hauch von Verlust an. Ganz kurz nur, wie das letzte Zucken eines von einem Pfeil gefällten Stücks Wild. Danach war vollkommene Leere.
21
Es war ein milder Tag mit tief hängender, dichter Wolkendecke, aus der aber kein Regen fiel. Dazu fast völlige Windstille, so dass jedes Geräusch weithin zu hören war. Ein wenig wie bei einem sich ankündigenden Sommergewitter, doch ohne die Bedrohlichkeit und das ferne Donnergrollen. Und nicht so farbintensiv. Leonardo liebte dieses Wetter, es beruhigte seine Sinne und tat seinen Augen gut. Und mit dem weichen Licht schienen auch die Menschen und die Dinge sanfter zu werden.
Sie hatten gerade die Porta Vercellina hinter sich gelassen, als der Prokurator von Herzog Sforza sein Pferd anhielt und auf ein Grundstück am Rande ihres Weges zeigte. Es war eher schmal und langgezogen, wie für Weinberge gebräuchlich. Leonardo schätzte, dass es etwa einen Hektar maß, mehr als er erwartet und zu hoffen gewagt hatte.
Der Prokurator setzte sein Pferd wieder in Bewegung, um mit Leonardo zu dem Haus zu reiten, das auf dem Gelände stand. Der mittelgroße Ziegelbau schien in ganz passablem Zustand zu sein.
Der Prokurator sah Leonardo an. »Was sagen Sie dazu, Meister da Vinci?«
»Ist das jetzt das Haus, das der Herzog mir schon vor Ewigkeiten versprochen hat?«
Der andere schüttelte leicht entrüstet den Kopf. »Das hier ist weit mehr. Dieses Haus mitsamt dem Weinberg kann Ihr Eigentum werden, ohne dass Sie eine Lire dafür zu bezahlen brauchen. Alles, was Sie tun müssen, ist, Ihr Fresko vom Cenacolo in annehmbarer Zeit fertigzustellen. Der Wert dieses Anwesens liegt, wenn ich Sie darauf hinweisen darf, erheblich über dem, was Herzog Sforza ursprünglich als Honorar für Ihre Leistungen mit Ihnen vereinbart hatte.«
»Hm, annehmbare Zeit, was stellen Sie sich darunter vor?«
»Das muss dann erörtert und vertraglich festgelegt werden.«
»Ich arbeite nicht mit der Knute im Nacken. Schon gar nicht, wenn meine Arbeit meine eigenen Qualitätskriterien erfüllen soll.«
Der Prokurator nickte. »Das wird natürlich berücksichtigt.«
»Hm…« Leonardo fixierte den Prokurator auf einmal mit einer Intensität, dass diesem sichtbar unbehaglich wurde. »Ich hätte eine Bitte an Sie, die Sie überraschen, erfreuen oder auch beleidigen könnte, je nachdem.«
Der Prokurator zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Das klingt interessant.«
»Würden Sie mir für mein Abendmahl in der Santa Maria delle Grazie Modell stehen? Sie scheinen mir der ideale Petrus zu sein!«
Der Prokurator war bass erstaunt. »Wieso denn das?«
»Das Alter stimmt ungefähr, der Bartwuchs, die Haare, die Nase. Ja, wenn ich Sie mir so anschaue, glaube ich, dass Sie das Aussehen haben, das ich für ihn
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