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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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Beschränktheit meinte, dass es ihm zustehe, sich über andere zu erheben, der verdiente keinerlei Rücksicht.
    Matteo sagte: »Unser Prior ist es nicht gewohnt, dass man ihm widerspricht.«
    »Ach ja, Despoten gibt es in vielerlei Gewand.« Leonardo wischte sich die Hände an seinem Rock ab, ohne daran zu denken, dass er seinen Malerkittel nicht angezogen hatte. » Dimmi , warum hast du ein so großes Interesse an dieser Arbeit?«
    »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen mit einer Gegenfrage antworte, Meister da Vinci, aber hätten Sie an meiner Stelle nicht auch begeistert zugeschaut, wenn Sie Zeuge der Erschaffung der Welt wären?«
    »Eine interessante Frage, und was für ein Vergleich!« Leonardo dachte kurz nach. »Aber dennoch eine sinnlose Frage, was nicht unbedingt ein Widerspruch sein muss. Der Bibel nach war der Mensch der letzte Teil der Schöpfung, was ausschließt, dass er Zeuge all dieser wundersamen Akte hätte sein können. Worauf naturgemäß die Frage folgt, wer das alles dann aufgeschrieben hat. Und die Antwort ist…« Er sah Matteo herausfordernd an, wobei er sich ein wenig schämte, dass er jemanden in die Enge zu treiben versuchte, der noch ein halbes Kind war.
    »Darauf habe ich keine Antwort, Meister. Das ist nun einmal so bei Mysterien.«
    »Mysterien?«, entgegnete Leonardo voller Verachtung. »Die Antwort ist, dass eine oder mehrere Personen mit bewundernswerter Phantasie die ganze Geschichte erfunden haben.«
    Matteo bekreuzigte sich hastig. »Dies ist nicht der Ort für Blasphemien, Meister da Vinci«, sagte er vorwurfsvoll.
    Leonardo nickte seufzend. »Du hast recht, Matteo. Nimm’s mir nicht übel, dein Prior hat meinen Mutwillen angestachelt.«
    »Wenn die biblischen Geschichten Ihrer Meinung nach frei erfunden sind, wie gelingt es Ihnen da, derart prachtvolle Allegorien zu malen?«
    »Hm, das hört sich an, als habe der Unterricht im Kloster ein hohes Niveau. Gleichwohl, mein guter Matteo, mir scheint, du verstehst nicht ganz, was eine Allegorie ist!«
    »Äh… eine biblische Szene?«
    »Nicht biblisch, sondern gleichnishaft. Mit einer tieferen, manchmal verborgenen Bedeutung, die zwar durchaus religiöser Natur sein kann, aber zum Beispiel auch auf die Torheiten des Menschen anspielen kann. Und entscheidend ist, dass es sich dabei um frei erfundene Szenen handelt, so leid es mir tut. Für einen, der später einmal Bücher schreiben möchte, scheinst du damit ungewöhnlich große Schwierigkeiten zu haben.«
    »Entschuldigen Sie, dass ich so offen auszusprechen wage, was ich denke, Meister da Vinci, aber ich finde, dass Sie gefährliche Dinge sagen.«
    »Was habe ich zu befürchten? Ich könnte dir ohne weiteres den Hals umdrehen.«
    Matteo erschrak sichtlich über diese Worte, bis er sah, dass Leonardo nur einen Scherz gemacht hatte. Er zeigte auf die Wand mit dem Cenacolo . »Die Begeisterung, die aus Ihrem Werk spricht… Es gibt eine höhere Macht, die Ihre Hand führt, Meister da Vinci. Sie sind ein Mittler dieser höheren Macht, ein irdischer Vertreter, der ihre Befehle ausführt. Und es ist unerheblich, ob Sie glauben oder nicht, wichtig ist allein das Ergebnis, die Botschaft, die Tausende von Sterblichen sehen, bewundern und, wer weiß, vielleicht sogar verstehen werden können.«
    Leonardo machte ein ungläubiges Gesicht. »Wie alt bist du noch gleich?«
    »Ich werde nie alt genug sein«, erwiderte Matteo kryptisch. Er erhob sich von dem Bretterstapel, auf dem er gesessen hatte. »Ich bete jeden Tag für Sie, Meister da Vinci. Auf dass Sie Ihr Werk so vollenden können, wie es offenbar in Ihrer Seele geschrieben steht.« Er ging zur Tür, durch die kurz zuvor der Prior verschwunden war.
    Leonardo sah dem Jungen grübelnd nach. Weisheit kommt nicht mit den Jahren, stellte er fest, sondern sie ist angeboren. Die Jahre brachten höchstens Schmerzen und Leid und bestenfalls auch das Vermögen, sich in das Unabänderliche und die eigene Ohnmacht zu ergeben. Wenn man Glück hatte, dachte man darüber nicht allzu früh nach.
    Er trat an die Südwand des Refektoriums, um von dort aus auf sein Werk zu blicken. Das tat er natürlich häufiger, doch jetzt war es, als betrachte er es mit anderen Augen, Augen, die nicht die seinen waren. Und das Bild, das er sah, schien auch ein anderes zu sein, als hätte die Szene eine dritte Dimension gewonnen und die Figuren könnten sich jeden Augenblick bewegen, auch die, die noch lange nicht vollendet waren.
    …wie es offenbar in Ihrer Seele

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