Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Arbeit, sonst nichts.«
»Ist er lieb?«
»Sehr lieb, und auch klug. Er möchte später Bücher schreiben.«
»Tja, da kann ein Nichtsnutz wie ich natürlich nicht mithalten.«
»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Leonardo unbarmherzig. Er hatte keine Lust auf einen kindischen Streit. »Wärst du jetzt bitte so nett, mich in Ruhe zu lassen?«
Salaì antwortete nicht, und als Leonardo kurz darauf zur Seite schaute, hatte er sich genauso lautlos entfernt, wie er gekommen war.
Leonardo starrte wieder auf das Wasser des Teichs, in dem Froschbiss trieb, dessen Blüten winzigen weißen Stiefmütterchen glichen. Er entdeckte zwei stattliche Hasel, die behäbig hintereinanderher schwammen wie in einem gravitätischen Tanz. Ein Wunder, dass sie hier wohl schon seit Jahren lebten und nicht von überfliegenden Reihern oder einer der vielen streunenden Katzen bemerkt worden waren. Offenbar hatte auch unter den Tieren der eine mehr Glück als der andere. Nur waren sie sich dessen nicht bewusst. Oder doch? Er hatte einmal aus nächster Nähe den Blick eines sterbenden Hundes gesehen, der von einem Pferd getreten worden war. Ein Blick, den er nie mehr vergessen hatte. Er hätte eine Zeichnung davon machen müssen, um das Bild aus dem Kopf zu bekommen. Wenn Augen Spiegel der Seele waren, wie immer behauptet wurde, hatten Tiere mit Sicherheit auch eine Seele, mochte das auch wie Gotteslästerung klingen. Er hatte in dem Blick jenes sterbenden Hundes jedenfalls das gleiche Leid und die gleiche Verzweiflung erkannt wie in den Augen eines Menschen, der weiß, dass sein Ende nah ist…
Wie mochte Jesus sich gefühlt haben? Jesus, der wusste, dass er mit dem Verräter am Tisch saß, der ihn ans Kreuz bringen würde. Zu wissen, was einen erwartet, und nichts daran ändern können, weil alles vorherbestimmt ist, festgelegt wie in einem Buch, dessen Figuren nicht anders können, als den unwiderruflichen Weg zu gehen, den der Autor bis in die kleinste Fingerbewegung für sie abgesteckt hat. Dieses fatale Wissen blieb jedem und allem Lebenden erspart. Jesus aber kannte seine Zukunft, er hatte die fürchterlichen Schmerzen, die er erfahren würde, wenn man ihm die Nägel durch Hände und Füße trieb, schon vorab durchlitten. Und er kannte den Schuldigen, den Verräter, mit dem er das Abendmahl teilte, ohne etwas gegen ihn unternehmen zu dürfen. Oder… war auch er nur eine Figur in einer erdachten Geschichte gewesen?
Die Antwort auf diese letzte Frage war von entscheidender Bedeutung dafür, welchen Ausdruck Leonardo in Jesus’ Blick legen würde. Göttliches Vorwissen und folglich Betrübnis über das Unabwendbare wie bei jenem sterbenden Hund? Oder menschliche Arglosigkeit und allenfalls ein ungutes Vorgefühl?
Und der Apostel Johannes? Schlafend an Jesus gelehnt? Hatte auch er eine Ahnung vom nahenden Unheil gehabt, oder hatte Jesus ihm davon erzählt? Sollte seine Haltung also Mitleid zum Ausdruck bringen oder eine ungewöhnlich tiefe Verbundenheit, ja Liebe?
Leonardo sprang auf und lief eilends ins Refektorium zurück.
Die beiden Mönche, die dort beschäftigt waren, kümmerten sich nicht weiter um ihn, als er geradewegs zur Nordwand marschierte und auf das große Gerüst zu seiner Arbeit hinaufstieg. Sie waren das unregelmäßige Kommen und Gehen des Meisters und dessen wechselhafte Stimmungen gewohnt. Manchmal arbeitete er, ohne auch nur einen Augenblick auszuruhen oder etwas zu essen, vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit. Manchmal sogar noch darüber hinaus, um im Licht von Öllampen letzte Hand an irgendein Detail zu legen. Dann wieder erschien er überhaupt nicht oder nur kurz, um nach wenigen Pinselstrichen wieder zu verschwinden. Es gab auch Tage, da er wie in Rage einen scheinbar schon fertigen Abschnitt des Wandgemäldes mit wütenden Strichen unter einer Schicht weißer Farbe begrub, um diesen dann Tage oder Wochen später noch einmal ganz neu zu gestalten.
Natürlich assistierten ihm Mitarbeiter, denen er die weniger bedeutsamen Teilstücke anvertraute, damit das gigantische Werk überhaupt bewältigt werden konnte. Einige von ihnen waren schon in Tränen aufgelöst davongelaufen. Mit anderen hatte er immer wieder heftigen Streit über ihren Ansatz. Aber gerade sie waren es, die er besonders respektierte. Es schien, als brauche er von Zeit zu Zeit Widerworte.
Der Herzog hatte sich genau ein Mal blicken lassen, und dabei hatte Leonardo ihn mit kategorischer Nichtbeachtung gestraft. Da Il Moro genug
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