Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
zutiefst betrübte. Weil er Möglichkeiten ungenutzt hatte vorbeigehen lassen. Oder weil das, was ihm hier Freude und Befriedigung beschert hatte, nicht erneuerbar war.
Er schlenderte über den Markt und lauschte den Unterhaltungen der Leute. Sie redeten meist über Alltägliches, das war nicht anders als vor achtzehn Jahren. Doch es kam auch vor, dass Dinge zur Sprache kamen, von denen Leonardo nichts wusste, die ihm fremd waren. Dann kam er sich wie ein Heimatloser vor, ein Außenseiter. Das Gefühl hatte er zwar schon immer irgendwie gehabt, doch jetzt empfand er stärker denn je, dass er nicht dazugehörte.
Eines Tages aber hörte er unverhofft einen bekannten Namen, von dem mit auffälliger Ehrfurcht gesprochen wurde, und er trat neugierig zu dem Kreis von Männern und Frauen, die an einem Heilkräuterstand im Gespräch waren.
»Entschuldigen Sie, wenn ich störe«, sagte er. »Ich wollte nicht lauschen, aber kann es sein, dass einer von Ihnen gerade den Namen Michelangelo erwähnte?«
»Sie haben ganz richtig gehört«, antwortete ein großer, hagerer Mann mit struppigem Rauschebart. »Sagen Sie bloß nicht, Sie kennen diesen herausragenden jungen Künstler nicht! Wo kommen Sie denn her?« Der Mann grinste schief, um zu unterstreichen, dass seine Empörung scherzhaft gemeint war.
»Ich bin tatsächlich lange nicht in Florenz gewesen. Aber ich bin einem Künstler dieses Namens schon anderswo begegnet, und deshalb wurde ich neugierig, als ich seinen Namen hier hörte.«
»Er hat eine prachtvolle Skulptur geschaffen«, sagte derselbe Mann. »Eine Pietà. Aus Marmor. Sie ist in aller Munde. Das schönste bildhauerische Werk, das je das Licht der Welt erblickt hat. Was sage ich, manche nennen es sogar ein Wunder!«
»Eine Pietà?«
»Ja, die Muttergottes mit dem Leichnam ihres Sohnes nach der Abnahme vom Kreuz.« Der Mann machte ein Gesicht, als halte er Leonardos Frage für eine Zumutung.
»Das klingt aber nicht gerade revolutionär.«
»Urteilen Sie nicht, bevor Sie das Werk nicht mit eigenen Augen gesehen haben, Fremder«, erwiderte der Mann. »Dieses Kunstwerk ist derart über das Alltägliche erhaben, dass der Blick es kaum fassen kann.«
Fremder, dachte Leonardo. Dass man ihn so nannte, versetzte ihm einen Stich. »Ich bin Meister Leonardo da Vinci«, sagte er, und es fehlte nicht viel, dass es herablassend geklungen hätte. »Der Sinn für die Kunst ist mir nicht ganz fremd.«
»Meister da Vinci?« Eine der Frauen sah ihn erstaunt an. »Ich war in Mailand, als das tönerne Sforza-Pferd ausgestellt wurde. Das haben doch Sie gemacht, nicht?«
»Sehen Sie es mir bitte nach, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe«, sagte der Mann mit dem Rauschebart nun in völlig anderem Ton. »Ihr Name ist mir natürlich ein Begriff, aber ich wusste nicht, wie Sie aussehen.«
Vielleicht sollte ich eine Porträtzeichnung von mir mittels der Radierung vervielfältigen und in ganz Italien verbreiten lassen, dachte Leonardo. Doch er verwarf den Gedanken sogleich. Lieber blieb er unerkannt, als womöglich ständig angegafft zu werden.
Er fragte: »Wo kann ich mir denn dieses Kunstwerk von Meister Michelangelo ansehen?«
»In der Werkstatt am Baptisterium. Aber warten Sie nicht zu lange, denn die Pietà soll demnächst nach Rom gebracht werden.«
»Nach Rom sogar!«
Der andere nickte. »Der Auftrag lautete angeblich, ein Bildnis von solcher Schönheit zu schaffen, dass sich in Rom nicht seinesgleichen findet.«
»Ihr David hier in Florenz ist aber auch sehr schön«, merkte die Frau wieder an, als versuche sie Leonardo den Rücken zu stärken.
»Der ist nicht von mir«, erwiderte er. »Ich habe nur Modell für ihn gestanden.« Er kostete noch einige Augenblicke lang ihre Verwirrung aus und wandte sich dann ab, um zum Baptisterium zu gehen.
Im kirchlichen Zentrum der Stadt hatte sich zum Glück kaum etwas verändert, und Leonardo fand die Werkstatt ohne große Mühe – auch weil sich eine wahre Menschenflut dorthin ergoss. Das Interesse schien nicht weniger groß zu sein als damals bei der Ausstellung seines Tonpferdes in der Corte Vecchia. Aber das war vor allem auf dessen aufsehenerregende Maße zurückzuführen, dachte Leonardo. Er war nicht ganz frei von Neid auf diesen Michelangelo, der gerade einmal halb so alt war wie er und schon so viel Beachtung fand. Das irritierte ihn.
Die Pietà war tatsächlich wundervoll, das musste er einräumen, als er vor der Marmorskulptur stand. Trotz oder auch gerade wegen
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