Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
einiger merkwürdiger Anomalien, die vielleicht nur ihm als Sachverständigem auffielen. Ihre visuelle Wirkung war so vollkommen, dass er alles um sich herum vergaß. Es war, als entführe die Figur ihn in eine andere, höhere Welt, in der es nichts als absolute Schönheit gab. Diese Schönheit war nicht nur physisch in den glänzend polierten weißen Marmor eingebettet, der gleichsam die Wärme lebendigen Fleisches abstrahlte, sondern auch spirituell. Der tiefe verhaltene Schmerz der Maria, wiedergegeben durch eine tragische Gebärde der linken Hand, der tote Christus auf ihrem Schoß, dem Leben noch so nah. Der vollendet gemeißelte Faltenwurf von Marias Gewand, unter dem sich ihr Körper abzeichnete, als sei er voller Bewegung…
Leonardo riss sich erschrocken zusammen, als er merkte, dass er ins Wanken geriet, als bringe die Anziehungskraft der Statue ihn aus dem Gleichgewicht. Er wurde sich wieder der anderen Besucher bewusst, die wie er in stummem Staunen auf dieses Wunder starrten, manche sogar mit offenem Mund.
Er machte sich auf die Suche nach Michelangelo, der aber kurz zuvor die Werkstatt verlassen hatte, wie man ihm sagte. Rein zufällig traf er ihn wenig später am Ufer des Arno, wo er nahe dem Ponte Vecchio, auf ein rostiges Eisengeländer gelehnt, selbstvergessen auf das langsam vorüberströmende Wasser starrte.
»Mein Glückwunsch, Meister Buonarroti. Sie haben mit Ihrer Pietà ein wirklich bemerkenswertes bildhauerisches Kunstwerk geschaffen. Es kommt der Vollendetheit so nahe, wie es überhaupt menschenmöglich ist.« Leonardo wurde sich bewusst, dass er tatsächlich meinte, was er sagte. Angesichts von etwas so Großartigem hatten niedere Empfindungen wie Missgunst und Brotneid keine Chance, ihre hässlichen Fratzen zu zeigen.
Michelangelo schaute nicht auf. »Sie legen gleich den Finger in die Wunde, die mich besonders schmerzt«, entgegnete er. »Die wahre Vollendung ist für den Menschen unerreichbar, zu ihr ist allein Gott fähig.«
»Was macht das schon, wenn keiner den Unterschied erkennen kann?«
»Ich erkenne ihn, und ich weiß darum…«
»Wenn jeder Künstler so dächte, wäre unsereins bald ausgestorben. Wir würden uns in Scharen erhängen.«
»Vielleicht sollten die meisten es auch besser tun.«
Leonardo entsann sich wieder, was ihm an Michelangelo schon in Mailand missfallen hatte. »An meinem Abendmahl hatten Sie ja auch etwas zu bemängeln.«
»Das beweist nur, was ich gerade sagte: Es gibt immer etwas zu bemängeln, Meister da Vinci. An jedem Kunstwerk, mag der Künstler auch noch so genial sein.«
»Wenn Gott aber fähig ist, Vollendetes zu schaffen, warum hat er die Welt dann so erbärmlich zusammengestümpert?«
Michelangelo nickte vor sich hin. »Ihre ketzerische Natur ist mir bekannt.«
»Ist das Ihre Antwort auf meine Frage?«
»Es gibt keine Antwort, Meister da Vinci. Weil wir Gottes Wege nicht kennen.«
»Ein solches Dogma ist für einen Mann der Wissenschaft von keinerlei Wert und Nutzen. Damit wird nur versucht, die Beschränktheit des Geistes zu verschleiern. Wir verstehen etwas nicht, also machen wir ein Dogma daraus. Dann sind alle zufrieden.«
»Auch wenn ich gläubig und fromm bin, ich bin kein Prediger, Meister da Vinci. Ich werde nicht versuchen, Sie zu bekehren.«
»Ich gründe meine Überzeugungen ohnehin nur auf eigene Beobachtungen und nicht auf mehr oder weniger aus der Luft gegriffene, nachgebetete Auslassungen gutgläubiger Bürger.«
Michelangelo schmunzelte. »Gleichwohl hat Sie meine Pietà beeindruckt, wie Sie sagen, ein Bildnis, wie es kaum christlicher sein kann.«
»Der Schmerz ist kein Monopol der Christen, Meister. Übrigens habe ich selbst auch eine Reihe biblischer Szenen abgebildet, meist auf Bestellung und zur Zufriedenheit der Auftraggeber.«
»Ergo?«
»Das sind Szenen, die sich irgendwann irgendwer ausgedacht hat. Der Künstler versucht, sie auf die gewünschte höhere Ebene zu heben. Am einen wie am anderen ist nichts Göttliches. Wenn jemand das nicht glauben kann, liegt es einzig und allein am Vermögen des betreffenden Künstlers.«
»War das ein Kompliment, oder sagen Sie das im Allgemeinen?«
»Beides«, antwortete Leonardo. Er deutete auf eine Bank hinter ihnen. »Wollen wir uns nicht setzen? Ab einem gewissen Alter ermüdet langes Stehen.«
Als sie sich gesetzt hatten, sagte Leonardo: »Mir sind bei der Betrachtung Ihrer Pietà einige Merkwürdigkeiten aufgefallen…«
Michelangelo nickte sogleich, während
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