Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Grausamkeiten in Florenz gesprochen hatte.
Einzelheiten über die Geschehnisse während der vergangenen Jahre erfuhr er von Lorenzo di Credi, der die bottega Verrocchios, in der sie beide gelernt hatten, weiterführte. Die Nachfrage nach Kunstwerken sei zurückgegangen, da das Geld fehle, erzählte er. Viele Gilden seien in finanziellen Nöten, zumal die Steuern kontinuierlich stiegen, weil der Krieg gegen das französische Pisa Unsummen verschlinge.
»Aber falls du Arbeit suchst, die Serviten haben kürzlich ein Altarbild für ihre Santissima Annunziata bei Filippino Lippi in Auftrag gegeben, und ich glaube, er tut sich ein wenig schwer damit. Vielleicht…«
Leonardo nickte. »Ich erinnere mich an Filippino. Ein mittelmäßiger Maler, aber er hat, soweit ich weiß, ein gutes Herz. Du meinst, er würde mir den Auftrag überlassen?«
»Die Klosterbrüder wären jedenfalls nur zu gern bereit, den Auftrag an dich weiterzugeben, da bin ich mir ziemlich sicher. Zumal, wenn sich das reibungslos gestalten ließe. Und möglicherweise könntest du auch bei ihnen unterkommen, denn sie haben reichlich Platz.«
Leonardo sah di Credi von der Seite an. »Mein altes Zimmer hier ist nicht zufällig frei?«
»Wir benutzen es als Rumpelkammer, die Tür geht fast nicht mehr zu. Soll ich einmal mit Lippi reden?«
»Gerne, aber von mir aus hat es keine Eile.«
Leonardo spürte, dass ihm noch nicht nach Arbeiten war. Er musste sich erst wieder in Florenz einleben.
Er machte einen Ausritt vor die Tore der Stadt und fand nach einigem Suchen die Stelle wieder, wo Adda einst auf einem Baumstamm gesessen und ihn mit den Klängen ihrer lira da braccio angelockt hatte. Er setzte sich auf den inzwischen halb vermoderten Stamm und starrte ins Leere, während die Gedanken auf der Suche nach einem neuen Halt durch seinen Kopf irrlichterten.
Nach einer Weile sah er aus dem Augenwinkel etwas herabtrudeln. Er dachte zunächst, es sei ein großes Insekt, doch tatsächlich war es ein geflügelter Samen von einem der vielen Ahornbäume rundum. Er ließ seinen Blick auf dem wunderlichen Ding zu seinen Füßen ruhen und bückte sich schließlich, um es aufzuheben. Der kleine Flügel war geädert und glatt wie ein Fledermausflügel, nicht gefiedert wie der eines Vogels. Leonardo warf ihn hoch und schaute fasziniert zu, wie er, schnell um die eigene Achse kreiselnd, ein Stück weit von der schwachen Brise getragen wurde, um sich dann langsam zu senken und weich zu landen.
Leonardo sprang auf, um den Samen ein zweites Mal aufzuheben und hochzuwerfen. Gleich darauf griff er zu seinem obligatorischen Notizbuch, um rasch eine Skizze zu machen. Seine Gedanken überschlugen sich nun förmlich in dem Eifer, dem neuen Einfall Gestalt zu verleihen. Mit schnellen Strichen zeichnete er einen kegelförmigen Körper mit einem schraubenartigen Flügel darauf.
Ein kreiselnder Flügel, das könnte die Lösung für seine Flugmaschine sein! Technisch viel einfacher umzusetzen als das vertrackte Prinzip des Flügelschlagens. Und effizienter.
Er ließ sich wieder auf dem Baumstamm nieder und starrte auf die Skizze, die er gerade angefertigt hatte. Mit einem Mal wünschte er, er wäre in Mailand geblieben. In der Corte Vecchia hatte er den Raum und die Mittel gehabt, eine solche Maschine zu bauen.
Hatte , musste er sich resigniert sagen. Denn das war Vergangenheit. Die Franzosen würden wohl nichts mehr von der Werkstatt übriggelassen haben. Was trieb die Menschen nur immer wieder dazu, anderen Schaden zuzufügen und das Leben zu vergällen, wo sie doch so viel Schönes erfinden und erschaffen könnten? Das war eine Frage, die er sich schon vielfach gestellt und auf die er nie eine Antwort gefunden hatte.
Er befestigte das Notizbuch wieder an seinem Gürtel und starrte abermals vor sich hin, missmutig jetzt und mit leichter Wehmut über Vergangenes und Verlorenes. Vielleicht sollte ich mich doch einmal intensiver mit dem Studium des menschlichen Gehirns befassen, dachte er. Wenn ich herausfände, wie es funktioniert und seinen Besitzer steuert, ließen sich vielleicht auch Mittel und Wege gegen seine lästige Beschränktheit bedenken…
Immer wieder streifte Leonardo auch durch die Stadt und verweilte an Orten, die mit Erinnerungen verbunden waren. Erinnerungen an Vergangenes, das nicht wiederzubeleben war. Da half auch die Überzeugung nicht, dass nichts endgültig ausgelöscht werden konnte, dass alles noch irgendwo war. Er fand nur Leere. Leere, die ihn
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