Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
auf die Tafel übertragen, ohne mich von mathematischen Formeln hindern zu lassen.« Beinahe hätte er gesagt: mit Zirkel und Zollstock im Auge und nicht in der Hand. Aber Michelangelos Worte nachzuplappern wäre denn doch zu viel der Ehre für den jungen Künstler gewesen.
»Ich bleibe dabei, dass es eine herrliche Arbeit ist, was immer Sie selbst auch davon halten mögen, Meister da Vinci. Es wäre mir lieb, sie in Bälde der Öffentlichkeit vorzustellen. Im größten Saal des Klosters, denn den werden wir gewiss brauchen.«
Leonardo hörte kaum zu. Im Grunde interessierte ihn die Arbeit schon nicht mehr. »Ich kann Sie nicht daran hindern«, sagte er nur. Dann zog er sich in sein Zimmer zurück, um nahezu vierundzwanzig Stunden am Stück zu schlafen.
Das Interesse der Leute an Leonardos Karton war in der Tat so groß, wie der Prior es erwartet hatte. Wie einst beim Tonpferd in Mailand strömten sie nun in Florenz aus allen Winkeln der Stadt herbei, um die Anna Selbdritt zu bewundern. Der Klostersaal, in dem der Karton ausgestellt war, war oft zum Bersten gefüllt, und in ganz Florenz sprach man von nichts anderem.
Der Meister selbst ließ sich nicht blicken, was den Prior und viele andere sehr enttäuschte. Salaì gegenüber erklärte Leonardo, dass er vorerst weder Zeichenstift noch Pinsel sehen mochte. Er hatte indes noch weitere wichtige Bestellungen, unter anderem ein kleines Madonnenbild für einen Günstling des Königs von Frankreich, der ihn über einen Gesandten in Florenz kontaktiert hatte. Leonardo malte ihm ein Bild, das die Maria und den mit einer Spindel spielenden Jesusknaben darstellte. Er entledigte sich dieser Aufgabe eilig und mit Widerwillen, denn er brannte darauf, sich wieder in Mathematik und Geometrie zu vertiefen. Zur Abwechslung feilte er auch an dem Entwurf der Flugmaschine mit dem kreiselnden Flügel, auf den ihn der Ahornsamen gebracht hatte.
»Manchmal machst du mir Angst mit deiner Obsession fürs Fliegen«, sagte Salaì einmal.
Leonardo hatte ihn hereinkommen hören, drehte sich aber nicht zu ihm um, sondern starrte weiter auf seinen neuesten Entwurf. Salaì legte die Hände auf seine Schultern und schaute mit auf die Zeichnung, die mit einigen Notizen in Leonardos eigensinniger linkshändiger Spiegelschrift versehen war. Salaì konnte sie inzwischen recht gut entziffern.
Freiheit, dachte Leonardo. Sich vom Boden in die Lüfte erheben können, fort von der Hetze und dem sinnlosen Geschwätz hienieden, von oben auf das Gewimmel hinabblicken, das fortwährende Hin und Her von Irgendwo und Nirgendwo, und dabei unfassbar sein für die, die dir Böses wollen oder dir Dinge abverlangen, die du ihnen nicht geben kannst oder willst, allein sein, begleitet nur von den Vögeln und dem Rauschen des Windes…
Unvermittelt sagte er: »Ich bin gestern fünfzig geworden.«
Salaì ließ seine Schultern los. »Warum hast du mich nicht daran erinnert?«
»Ich wollte, dass der Tag unbemerkt vorübergeht.«
»Aber heute erzählst du es mir!«
»Damit du mit mir trauerst.«
»Trauern? Wieso trauern?«
Leonardo zuckte die Achseln. »Was kann trauriger sein als das Älterwerden? Zu spüren, dass die Kräfte nachlassen und Schwachheit und Gebrechen lauern…«
»Ach, Leonardo, du bist gesund, siehst gut aus, hast Erfolg, und…« Du hast mich, hatte Salaì sagen wollen, aber er fürchtete, dass Leonardo auch das als belanglos abtun würde. Leonardo machte eine ungeduldige Gebärde.
»Versuch nicht, mir etwas einzureden. Ich weiß, was ich sehe, und vor allem, was ich fühle. Ich kann den stinkenden Atem des Alters schon riechen.«
Leise sagte Salaì: »Ich glaube, ich lasse dich besser allein.« Er wartete noch einige Augenblicke hoffnungsvoll, doch als Leonardo langsam nickte, wandte er sich ab und verließ den Raum.
Leonardo blieb allein zurück, wie er es am liebsten hatte – meistens.
26
»Es wartet ein Besucher auf Sie im Saal mit der heiligen Anna, Meister da Vinci«, verkündete der alte Mönch. »Ein hoher Besucher«, fügte er spürbar eingeschüchtert hinzu.
Leonardo war verärgert. »Wie oft muss ich denn noch begreiflich machen, dass ich für niemanden zu sprechen bin, es sei denn, ich habe ihn selbst eingeladen!«
»Sein Name ist Vitellozzo Vitelli. Ein Hauptmann aus Arezzo und ein Verbündeter von Herzog Cesare Borgia.«
Leonardo schob unwirsch seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Vielleicht sollte ich umziehen, ich bin in diesem Kloster zu leicht zu finden.«
Oder
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