Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
seiner Reisen im Dienste Cesare Borgias bewundert hatte. Lisa del Giocondo deutete er zunächst nicht mehr als umrisshaft an, natürlich unter Berücksichtigung der schon gemessenen Proportionen. Nebenher machte er indes unzählige Skizzen von ihrem Mund in dem Versuch, diesen ganz eigenen Ausdruck von ihr wiederzugeben, diesen Anflug eines rätselhaften Lächelns, das er nur ganz kurz gesehen hatte und das ihn seither nicht mehr losließ. Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Papier vergeudet, weil er gleichsam einen Schemen einzufangen versuchte. Immerhin erkannte er, warum ihm das nicht gelingen wollte. Er hatte nur das äußere Bild gesehen, ohne zu wissen, welche Bedeutung sich dahinter verbarg. Was er zeichnete, war der Schleier, nicht die Wahrheit. Und das genügte ihm nicht.
Also schickte er einen Kurier zu Lisa del Giocondo, damit sie ihm ein weiteres Mal Modell saß. Der Kurier kehrte alsbald mit der überraschenden Botschaft zurück, dass die Dame ihn nicht in der Werkstatt, sondern auf dem Ponte Vecchio zu treffen wünsche.
Sie erwartete ihn in der Mitte der Brücke, wo sie selbstversunken auf den Arno hinunterschaute.
»Ich brauchte frische Luft«, erklärte sie, als sie Leonardo bemerkte. »Das überkommt mich manchmal ohne ersichtlichen Grund.«
Er nickte. »Ich nehme dann meistens mein Pferd und reite in den Wald hinaus.«
»Francesco sieht es gar nicht gern, dass ich allein das Haus verlasse. Wenn es nach ihm ginge, müsste immer eine Anstandsdame dabei sein. Aber im Moment ist er nicht da, er musste geschäftlich nach London.« Sie sah Leonardo kurz an. »Darf ich Sie beim Vornamen nennen? Oder wäre das allzu anmaßend?«
Er nickte abwesend, den Blick auf ihre Lippen gerichtet. Ein ganz normaler Mund, fand er. Weder groß noch klein, die Winkel leicht erhaben, keine Grübchen zu den Seiten.
»Nennen Sie mich doch bitte Lisa, aber nicht, wenn Francesco dabei ist. Er legt großen Wert auf Förmlichkeiten.«
»Selbst bei einem Künstler? Es soll doch fürwahr Menschen geben, die glauben, er stehle ihnen die Seele, wenn er ihr Bildnis zeichne oder male.«
»Das klingt nach den Heiden in dem neuen Land, das dieser Seefahrer im Westen entdeckt hat.« Lisa starrte wieder ins Wasser. »Rote Menschen sollen das sein, die gar nicht wissen, wer Gott ist. Es heißt, dass sie auch gar keine Seele haben und somit keine wirklichen Menschen sind. Die perfekten Sklaven! Was man wohl noch alles entdecken wird? Zuerst schwarze und gelbe, jetzt rote und bald womöglich grüne Menschen?«
»Farbige sind leichter zu malen. Die perfekte Wiedergabe weißer Haut ist problematisch.«
»Denkst du an nichts anderes als ans Malen?«
Leonardo sah Lisa nachdenklich an. »Es wird dich vielleicht erstaunen, aber ich denke nur noch selten an die Malerei, obwohl sie meiner Meinung nach die vollkommenste Ausdrucksform der Kunst ist.«
»Ach. Und was ist mit der Bildhauerei? Eine Skulptur kann man immerhin von allen Seiten bewundern!«
»Eine Skulptur aus Stein oder Marmor hat ihre Grenzen, Lisa. Hammer und Meißel sind im Vergleich zu Pinsel und Farbe doch recht grobe Werkzeuge. Wenngleich es ein oder zwei Künstler gibt, die Wunder damit vollbringen können.«
Lisa zuckte die Achseln. »Wenn du es sagst. Ich kenne mich darin nicht aus.«
Rücklings ans Brückengeländer gelehnt, studierte Leonardo Lisas Profil. »Wolltest du eigentlich selbst gern porträtiert werden?«
Sie sah ihn verwundert an. »Möchte das nicht jeder? Oder ist das eine Frage der Eitelkeit?«
»Eitel sind wir alle, die einen mehr, die anderen weniger. Sonst hätte nicht ein jeder von uns Spiegel im Haus.«
»Gilt das also auch für Männer?«
Leonardo schmunzelte. »Das gilt für sämtliche männlichen Wesen. Man denke nur an die Pfauen, die mit ihrem Rad prunken, die Hähne mit ihrem Kamm, die Löwen mit ihrer Mähne, die Hirsche mit ihrem Geweih.«
»Und die Weibchen sind so dumm, sich von solcher Prahlerei blenden zu lassen.«
Leonardo drehte sich um und starrte seinerseits auf den Fluss hinunter. »Jugend und gutes Aussehen, ja, darüber verfügte ich auch einst…«
»Wir werden alle irgendwann alt und hässlich, Leonardo.«
»Ist es das, was ich jetzt bin, alt und hässlich?«
Hastig erwiderte Lisa: »Das habe ich nicht gemeint.«
Leonardos Gedanken wanderten unweigerlich zu Michelangelo, Michelangelo mit seiner krankhaften Begeisterung für alles Junge und Schöne. Er machte eine müde Handbewegung. »Reden wir lieber von
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