Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
mythologischen Geschichte von Zeus, der sich in Gestalt eines Schwans Leda näherte, der Tochter des Königs von Ätolien, und mit ihr die schöne Helena zeugte, die aus einem Ei geboren wurde.
Vielleicht ist das ja die Lösung, dachte Leonardo. Menschliche und tierische Eigenschaften so zu vereinen, dass sie sich gegenseitig ergänzen. Doch die Natur gestattete keine Vermischung der Arten. Warum nicht? Das war doch offenbar der einzig mögliche Weg, zum perfekten Lebewesen zu gelangen.
Der Gedanke an Leda und ihren Schwan ließ ihn nicht los. Er suchte sich einen einigermaßen trockenen Fleck unter einem überhängenden Felsen und griff zu seinem Skizzenbuch. Mit schnellen Strichen zeichnete er eine mütterlich wirkende junge Nackte, die an einem üppig bewachsenen Ufer kniete und von einem großen Schwan liebevoll umgarnt wurde. Damit handle ich mir bestimmt eine Rüge des Klerus ein, dachte er bei der Betrachtung dessen, was er gezeichnet hatte, missvergnügt. Es atmete Sinnlichkeit und zugleich ein Quentchen Obszönität. Wie es der fleischlichen Liebe eigen war.
Vielleicht würde das Bild ja seinem neuen Gönner Charles d’Amboise gefallen. Dass die Franzosen im Allgemeinen weniger engstirnig waren als die Mailänder und die Florentiner, hatte Leonardo jedenfalls schon feststellen können.
Auf den unablässigen Regen starrend, massierte Leonardo selbstvergessen seine linke Hand, die ihm jetzt von Zeit zu Zeit ähnliche Beschwerden machte wie seine Schulter. Sie schmerzte manchmal, als würden ihm Nadeln in den Daumen gestochen.
Ihm war nicht danach, in den Lärm und die Betriebsamkeit von Mailand zurückzukehren. Im Haus am Weinberg wäre es ruhiger, doch er scheute sich, Salaì dort zu stören. Obwohl das Haus immer noch sein Eigentum war, kam er sich dort fast wie ein Eindringling vor. Vielleicht, weil Salaì so vieles nach seinem Geschmack verändert hatte.
Aber ich kann auch nicht hier im Regen sitzen bleiben, sagte er sich. Er wusste aus Erfahrung, dass die Feuchtigkeit seinen morscher werdenden Knochen nicht guttat. Also erhob er sich wohl oder übel und ging zu seinem Pferd zurück, das mit gesenktem Kopf den Regen über sich ergehen ließ.
Als Leonardo aufsaß, hörte er irgendwo in einem nahen Baum einen spitzen Vogelschrei, ein Rascheln und gleich darauf sich schnell entfernendes Flügelgeflatter. Der Vogel selbst blieb unsichtbar.
»Ach, könnte ich mich doch auch so erheben und das Gewimmel der kleinen Menschen mit ihren kleinen Gedanken und ihren kleinen Passionen in ihren kleinen Häusern hinter mir lassen, wo sie leben wie die Frösche in einem Graben und laut quaken, damit man sie hört, und Ungeziefer fangen, um sich die Bäuche zu füllen…«
Das Pferd drehte die Ohren, als wollte es Leonardos Monolog besser lauschen können.
»Wenn der Vogel im Wind ist, kann er sich auf diesem halten, ohne mit den Flügeln zu schlagen. Die Funktion, die der bewegte Flügel der unbewegten Luft gegenüber hatte, übernimmt nun die Luft gegenüber dem unbewegten Flügel…«
Leonardo hielt abrupt inne. Jetzt hatte er doch tatsächlich laut vor sich hin gebrabbelt wie ein Tattergreis! Wer hatte ihn noch unlängst davor gewarnt? Salaì? Er wusste es nicht mehr. Das kam noch hinzu, dass er sich neuerdings besser an das erinnerte, was vor langer Zeit gewesen war, als an jüngst Erlebtes.
Ach, ich beschäftige mich viel zu sehr mit dem Älterwerden, sagte er sich. Es hatte wohl damit zu tun, dass er allmählich auf die sechzig zuging. Ein Alter, in dem viele Männer bereits starben. Er hatte keine wirkliche Angst vor dem Tod, davor, nicht mehr da zu sein. Warum sollte man sich vor etwas fürchten, von dem man gar nichts merkte? Aber das eigentliche Sterben schreckte ihn. Er hatte schon zu viele Menschen grauenvoll krepieren sehen. Und den Mut, sich selbst einen Dolch ins Herz zu stoßen, würde er nicht haben, das wusste er schon jetzt.
Mit einer Flugmaschine abstürzen!, dachte er. Das wäre ein Tod, den er sich wünschen würde, wenn er die Wahl hätte. Von einem hohen Berg hinab in die Tiefe, und dann noch ein glorreicher letzter Moment des Schwebens vor dem tödlichen Aufprall. Und vielleicht würde dieser Aufprall gar nicht stattfinden, vielleicht wäre er der erste Mensch, der flog wie ein Vogel. Immer höher, fort von der Welt, in der er sich allzu oft wie ein Fremder fühlte, fort, um nie mehr wiederzukehren. Vielleicht würde er auf einer paradiesischen Insel landen, auf der es nur
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