Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Kampfes, dachte Leonardo. Die Schlachtrufe, das Klirren der Schwerter, das Wiehern der Pferde, die Flüche, die Schreie des Entsetzens und des Schmerzes, wenn eine Hand oder ein Arm abgetrennt werden oder sich eine Lanze in einen Leib bohrt. Und auch der Gestank fehlte, nach Schweiß und nach Blut, Blut, das spritzt und strömt und den Boden tränkt.
Doch das alles konnte man hören und riechen, ja womöglich sogar spüren, wenn man das Gemalte mit offenen Sinnen auf sich wirken ließ.
Salaì hatte sich neben Leonardo gestellt, um mit ihm auf die Arbeit zu schauen. »Ich denke, die Signoria wird zufrieden sein«, sagte er. »Vorausgesetzt, wir machen so weiter, und sie bekommen ihr Fresko sogar termingerecht.« Er sah Leonardo nicht an.
Leonardo nickte. »Ich denke, alles Weitere kannst du auch ohne mich fertigstellen. Ich habe genug von dem Kriegsgetümmel.« Ohne Salaìs Antwort abzuwarten, verließ er den Ratssaal. Das fast vollendete Wandgemälde würdigte er keines Blickes mehr.
Er hatte sich gerade mit einem Humpen Bier in einen Sessel fallen lassen, als Salaì eintrat. Seine Miene verhieß nichts Gutes.
»Was ist?« Leonardos Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er in Ruhe gelassen werden wollte. »Ist doch noch einer vom Gerüst gefallen und hat sich das Genick gebrochen?«
»Wir haben Besuch…« Salaì schnappte nach Luft. »Meister Michelangelo Buonarroti. Er sagt… Er behauptet, dass auch er hier ein Fresko malen soll. Auf die gegenüberliegende Wand.« Sichtlich beunruhigt wartete er auf Leonardos Reaktion.
»Sieh an, sieh an!« Leonardo leerte zunächst seinen Humpen und ließ ihn sich von Salaì noch einmal füllen, bevor er fortfuhr: »Das überrascht mich weniger, als du vielleicht denkst. Irgendwie hing schon etwas Eigenartiges in der Luft, als ich mit den Herren des Rates über den Auftrag sprach.«
»Sie waren auf die perverse Idee gekommen, uns in einer Art Wettstreit gegeneinander auszuspielen«, sagte Michelangelo, der unbemerkt in die offen stehende Tür getreten war. »Darf ich hereinkommen?«
»Es ist mir eine Ehre«, antwortete Leonardo, ohne recht zu wissen, ob er es auch wirklich meinte. Mit einer unbestimmten Handbewegung lud er Michelangelo ein: »Setz dich, und trink etwas mit mir.«
»Großartig, was du bis jetzt auf die Wand gebracht hast«, sagte Michelangelo, während er Leonardos Einladung Folge leistete und von Salaì einen Humpen Bier entgegennahm. »Ich schätze, wir wären im Wettstreit ungefähr gleichauf.«
Leonardo nickte. »Was für ein Kompliment aus deinem Munde!«
Er sah Michelangelo prüfend an. Deutlich älter und reifer sah er aus. Offenbar begann der Zahn der Zeit jetzt auch an ihm zu nagen. Sogar seine Nase schien sich irgendwie verändert zu haben, denn sein klassisches Profil hatte gelitten.
»Mir gaben sie den Auftrag, die Schlacht von Cascina darzustellen. Sie haben natürlich auf unsere Rivalität spekuliert, um das Beste aus uns herauszuholen.«
»Sind wir denn Rivalen?«
»Das ist deren Unterstellung. Aber wir haben jeder unseren eigenen Stil – mehr oder weniger vollkommen.«
»Und was ist nun mit dem Wettstreit?«, fragte Leonardo nach einem Schluck Bier.
»Davon hörte ich erst, nachdem du deinen Auftrag hattest. Mein Vater ist mit einem der Ratsherren persönlich bekannt, da sickert dann schon einmal etwas durch. Man gedachte, uns vor den Augen des Publikums, das zweifellos in Scharen herbeigeströmt wäre, gegeneinander in den Ring treten zu lassen.«
»Und deshalb hast du den Auftrag abgelehnt?«
»Ein derartiges Schauspiel wäre weit unter meiner Würde. Die Signoria hat sich damit abfinden müssen, dass ich erst an die Arbeit gehe, wenn du fertig bist.« Michelangelo nippte von seinem Bier. »Natürlich werde ich dennoch versuchen, dein Werk zu übertreffen. Es Tag für Tag vor Augen zu haben wird mich gewiss anspornen.«
»Gewiss.« Leonardo setzte seinen Humpen an die Lippen und schaute Michelangelo über den Rand hinweg an. »Hast du die Auswüchse so einer Schlacht je selbst mit angesehen?«
»Nein, wieso?«
Leonardo lächelte leise. »Dann dürfte es schwer für dich werden, mein Werk zu übertreffen.«
»Ach, Leonardo, die Phantasie ist oft stärker als die Realität.«
»Ein verständlicher Irrtum, der auf deine mangelnde Lebenserfahrung zurückzuführen ist.« Leonardo stellte seinen Humpen ab. »Was ist mit deiner Nase passiert, wenn ich fragen darf?«
Michelangelo zog eine verächtliche Miene. »Die hat mir ein
Weitere Kostenlose Bücher