Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
rechtschaffene, sozial fühlende Menschen gäbe, die weise und bedacht redeten, anstatt sich in solch unsinnigem, hirnlosem, boshaftem Geplapper zu ergehen, wie es ihn hier immer und überall umgab…
Leonardo schreckte aus seinen Träumereien auf, als sein Pferd sich vertrat und Mühe hatte, das Gleichgewicht wiederzufinden.
»Du hast kein Recht, so unzufrieden zu sein«, hatte Salaì ihm einmal vorgeworfen. »Du bist immer gesund gewesen, du musstest nie gegen deinen Willen Militärdienst leisten, du hast nie schwere Landarbeit kennengelernt, du weißt nicht, was es heißt, Hunger zu leiden, du bewegst dich in den höchsten Kreisen, du befasst dich mit Dingen, die du gerne tust, du lebst in einem Land, in dem das Wetter meistens freundlich und die Natur schön ist, du wirst von vielen für dein Wissen und Können bewundert, hast du da einen Grund, Trübsal zu blasen?«
Leonardo war ihm eine Antwort schuldig geblieben. Weil er keine hatte. Vielleicht machten ihm ja gerade sein Wissen und Können umso deutlicher bewusst, wie wenig der Mensch im Grunde ausrichten konnte. Solange man diese Nichtigkeit nicht erkannte, schien alles halb so schlimm zu sein. Und um diese Nichtigkeit zu erkennen, bedurfte es des Verstands. Wieder so ein schmerzliches Paradox.
Es gab Menschen, deren Gesichtsausdruck ahnen ließ, dass sie es begriffen hatten. Lisa zum Beispiel, dachte er. Mit ihrem unvermittelten leisen Lächeln gab sie doch auch zu verstehen, dass ihr keiner mehr etwas vormachen konnte, oder? La Gioconda hatte er ihr Porträt in Gedanken tituliert. Und das bezog sich nicht in erster Linie auf den Namen, den Lisa trug, sondern auf die Bedeutung des Wortes. Giocondo hieß ›amüsiert‹.
Der Gedanke an Lisa weckte seine Lust, an ihrem Porträt weiterzuarbeiten, und er kehrte nun doch ins Castello zurück. Seltsamerweise konnte er sich jedoch ihr Gesicht nicht mehr so plastisch in Erinnerung rufen, wie sonst jedes Detail während der Arbeit an einem Bild bei ihm abgespeichert war. Die vagen Umrisse, die er schon auf die Tafel übertragen hatte, halfen ihm kaum weiter. Er dachte nicht lange nach, sondern schickte einen Kurier zum Hause Giocondo in Florenz.
Drei Wochen später traf Lisa in Begleitung zweier Bediensteter im Schloss ein. »Welche Überraschung, von dir zu hören«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich hatte schon fast vergessen, dass ich noch immer ein Porträt von dir guthabe. Ist es fertig?«
Anstatt zu antworten, musterte Leonardo sie so eindringlich, dass es ihr sichtbar unbehaglich wurde. »Ich hatte vergessen, wie du aussiehst«, erklärte er.
»Vielen Dank. Bin ich dafür so weit gereist?«
»Ich habe mich vielleicht zu sehr auf das Wichtigste konzentriert.« Er zog sie mit in das geräumige Atelier, das an sein Wohnzimmer grenzte.
Lisa blickte mit gerunzelter Stirn auf das Porträt, das auf einer Staffelei am Fenster prangte. »Was soll denn das sein? Ich sehe ja aus wie ein Geist! Wenngleich…«, sie trat näher an das Bild heran, »…der Hintergrund ist wunderschön. Vielleicht hättest du mich besser weggelassen. Und ist das mein Mund?«
»Wie du ihn selbst wahrscheinlich noch nie gesehen hast«, antwortete Leonardo. »Ein unbewusster Ausdruck, den du bestimmt nicht spielen kannst.«
Lisa schaute ein Weilchen auf die fertig ausgearbeiteten Hände auf der Tafel – die ja nicht die ihren waren –, sagte aber nichts dazu. Offenbar war sie Frau genug, um anzunehmen, was sie schöner machte.
»Wenn du einverstanden bist, möchte ich jetzt die wichtigsten Merkmale deines Gesichts auf der Tafel festhalten, so dass ich das Porträt weiter vervollständigen kann, ohne dich noch einmal behelligen zu müssen. Ich kann durchaus nachempfinden, dass es in diesen Zeiten kein reines Vergnügen für dich ist, den weiten Weg von Florenz nach Mailand zu machen.«
»Falls du nicht wieder vergisst, wie ich aussehe!«
»Lisa… Ich hatte seit unserer letzten Begegnung schwierige Aufgaben zu bewältigen.«
»O ja, ich habe etwas davon läuten hören. Dieses Anghiari-Fresko in Florenz, nicht wahr? Prachtvolle kämpfende Männer mit schweißnassen muskulösen Torsi, das hat dich wohl stärker angesprochen als das Bildnis von einer gewöhnlichen Frau, wie man sie zu Hunderten auf der Straße sieht.«
Leonardo legte bedächtig seine Palette beiseite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum nehmen Frauen derlei immer so persönlich?«
»Was meinst du mit derlei ?«
»Nun, ihr Porträt zum
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