Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
sollten anschließend außerhalb der Stadtmauern kampieren. Hunderte von Bannern flatterten in der südlichen Brise, Rüstungen funkelten in der Sonne, auf den Pflastersteinen dröhnte das Klappern von Pferdehufen und Wagenrädern, die Zuschauer klatschten und jubelten.
Wenngleich sich der Beifall bei diesem prunkvollen Besuch von Galeazzo Maria Sforza in Florenz eher in Grenzen hielt. Der neue Herzog von Mailand war noch um einiges unbeliebter als sein Vater Francesco. Galeazzo galt als brutaler Schürzenjäger, der sich mit Gewalt nahm, was er haben wollte, und nicht davor zurückschreckte, die Männer, deren Frauen er begehrte, verstümmeln zu lassen. Man erzählte sich auch, dass er gefasste Wilderer zwang, ihre Beute mit Haut und Haar roh hinunterzuschlingen. Und erwischte man sie ein zweites Mal auf frischer Tat, ließ er ihnen die Hände abhacken. Vereinzelt wurden bereits Stimmen laut, Florenz solle sich von diesem Verbündeten abwenden, doch die Medici hielten an ihm fest, nicht zuletzt, weil er mit einer Tochter des Königs von Frankreich verheiratet war.
Leonardo stand mit Verrocchio in der Nähe des Palazzo Medici und schaute zu. Als Mitarbeiter bei den Vorbereitungen der Festlichkeiten hatte man ihnen eine Art Ehrenplatz zugewiesen, so dass sie alles gut sehen konnten. Verrocchios Werkstatt hatte zum einen die Gästequartiere im Palazzo verschönert, und zum anderen hatte Verrocchio selbst im Auftrag von Lorenzo de’ Medici den prächtigen Helm und die römische Rüstung gefertigt, die der Herzog bei diesem Anlass trug.
Mit distanziertem Interesse blickte Leonardo auf das markante Profil des hakennasigen Herzogs, der mit einer Eskorte aus Lanzenreitern auf seinem imposanten friesischen Hengst an ihnen vorüberritt. Sein schmaler, verkniffener Mund und der Schwung seiner buschigen Augenbrauen verliehen ihm ein Aussehen, das die Bösartigkeit seines Charakters widerzuspiegeln schien. Er hielt sein Pferd mit nur einer behandschuhten Hand am Zügel, während er die andere herausfordernd in die linke Hüfte stemmte.
Aus irgendeinem Grund zog ein dunkler junger Mann Leonardos Aufmerksamkeit auf sich, der, scheinbar in Gedanken versunken, auf einem Schimmel unmittelbar hinter dem Herzog ritt. Kurz bevor er im Palazzo verschwand, wandte er den Kopf um und sah Leonardo einige Sekunden lang mit durchdringendem Blick an.
»Das war Ludovico«, sagte Verrocchio ungefragt, als er Leonardos verdutztes Gesicht sah. »Der jüngere Bruder von Galeazzo. Weil er so dunkel ist, wird er Il Moro , der Maure, genannt. Es heißt, er sei aus einem ganz anderen Holz geschnitzt als Galeazzo.«
»Warum hat er mich so angesehen?«
Verrocchio zuckte die Achseln. »Du weißt doch, dass es Leute gibt, die dir ein recht schmeichelndes Äußeres zuschreiben. Vielleicht ist auch Il Moro dafür empfänglich.« Er sah Leonardo einen Augenblick lang forschend an. »Ehrlich gesagt wundert es mich, dass ich dich noch nie in weiblicher Gesellschaft gesehen habe.«
Leonardo entgegnete, ohne den Blick von dem Aufzug abzuwenden: »Ich habe immer andere Prioritäten gesetzt.«
Verrocchio verzog das Gesicht. »Und das soll ich glauben?«
»Es ist einfach so.«
»Hm… Und wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist?«
»Dann werde ich zu viel Arbeit haben, um an andere Dinge denken zu können.«
Verrocchio ging nicht weiter darauf ein. »Apropos Arbeit, willst du dir den Rest des Aufzugs noch ansehen, oder kommst du mit zurück?«
Er war ungeduldig, weil eine gigantische Aufgabe auf sie wartete. Schon seit mehreren Jahren begleitete ihn die Fertigung einer massiven Kupferkugel von gut vier braccia Durchmesser und mehr als zwei Tonnen Gewicht, die die gewaltige Kuppel des Doms krönen sollte.
Das Kunstwerk auf die Turmkuppel zu hieven und an seinem Platz zu verankern brachte große technische Probleme mit sich. In Zusammenarbeit mit der Dombauhütte war eine Gruppe von Handwerkern seit Wochen damit befasst, die Vorrichtungen zu bauen, die Meisterarchitekt Filippo Brunelleschi einige Jahrzehnte zuvor im Rahmen der Bauarbeiten an der Kuppel entworfen hatte. Einen drehbaren Kran zum Beispiel, eine große Winde mit von Ochsen bewegtem Zahnradgetriebe, mächtige Lastenaufzüge, spezielle Gerüste und so weiter.
Leonardo war fasziniert von den technischen Berechnungen und Skizzen, die der inzwischen verstorbene Brunelleschi seinerzeit gemacht hatte. Teile seiner Entwürfe hatte er sogar noch einmal gezeichnet, um sie den Arbeitern
Weitere Kostenlose Bücher