Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
verständlicher zu machen. Mit seinem angeborenen Gefühl für Mechanik und die dazugehörigen Kräfte, das er damit unter Beweis stellte, hatte er Verrocchio derart verblüfft, dass dieser ihm die Aufsicht über die Arbeiten anvertraute, wenn er selbst nicht zugegen sein konnte.
Doch an diesem besonderen Tag wurde nicht gearbeitet. Spektakel hatten in Florenz immer Vorrang vor allen anderen Aktivitäten.
»Alles wird wie geplant bis Ende April fertig sein«, versicherte Leonardo, während sie in die Werkstatt zurückgingen. Er wusste, woran Verrocchio die ganze Zeit dachte.
»Ich möchte, dass die allerletzten Vorbereitungen schon einige Tage früher abgeschlossen sind. Es kommen viele geladene Gäste, Leonardo. Da muss alles wie am Schnürchen laufen.«
Als wenn ich das nicht wüsste, dachte Leonardo leicht säuerlich. Die Arbeit selbst fand er höchst interessant und aufregend, aber all diese Gaffer waren ihm zu viel. Er verstand durchaus, dass selbst der allerbeste Künstler kein Auskommen fand, wenn er es nicht verstand, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Doch er überließ es lieber anderen, nach dieser Beachtung zu heischen.
»Die Chorherren werden schon beizeiten ihr Tedeum singen können«, sagte er und dachte: Es sei denn, es gefällt dem Herrgott, zum falschen Moment ein Kranseil reißen zu lassen. Ein Gedanke, den er wohlweislich für sich behielt.
Sie gingen eine Weile schweigend weiter, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, bis Verrocchio nicht ganz unerwartet fragte: »Hast du dich schon entschieden, was du nachher machen wirst? Ich meine, ziehst du wieder zu Hause ein, oder möchtest du in dem Zimmer über der Werkstatt bleiben?«
Nach Hause… In den vergangenen Jahren war die bottega zu seinem Zuhause geworden, weit mehr, als es das unpersönliche, kühle Haus seines Vaters je hatte sein können.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mein Zimmer gerne behalten«, sagte er. »Zumindest so lange, bis ich über die Mittel verfüge, mir selbst irgendwo eine geeignete Wohnung zu mieten.«
»Die Gilde wird dir sicher dabei helfen können.«
Leonardo zog eine Grimasse. »Ich spare noch an meiner Aufnahmegebühr.«
»Kann dir denn dein Vater nicht…«
»Ich bin kein Bettler«, fuhr Leonardo dazwischen.
Verrocchio nickte. »Es ist auch für mich vielleicht praktischer, wenn du in der Nähe bleibst.«
Leonardo stand auf einem Gerüst in Höhe der Laterne oben auf der Ziegelsteinkuppel des Doms. Stetig, ohne das geringste Rucken, bewegte sich die Kupferkugel aufwärts, und die Menge unten auf dem Platz reckte die Gesichter empor – für Leonardo sichtbar als lauter kleine helle Tupfer. Bei jedem braccio , den die Kugel zurücklegte, erschallten aus der Tiefe Trompetenstöße.
Ein bisschen voreilig, fand Leonardo. Es konnte noch so vieles schiefgehen. Einer der Ochsen, die die Winde antrieben, konnte ausscheren und die anderen anstecken, ein Seil konnte reißen, ein Führungsblock zerbersten. Und dann kam ja noch die diffizile Feinarbeit, die Kugel genau auf die Fassung zu setzen, die Brunelleschi seinerzeit dafür angebracht hatte. Wenn das gelang und auch alles genau passte, musste die Kugel rundum an der Fassung festgelötet werden, damit sie mit der Laterne ein sturmfestes Ganzes bildete. Buchstäbliche Krönung würde zu guter Letzt das Kreuz sein, das in einer Aussparung oben auf der Kugel verankert werden würde. Erst dann war es Zeit für Musik. Aber gut, die Trompeter bekamen drei Lire, und sie wollten offenbar beweisen, dass sie ihr Geld wert waren.
Es war ein schöner Maitag mit blauem Himmel und einem kaum fühlbaren Windhauch. Als wäre jemand da oben sehr zufrieden mit dem, was wir hier anstellen, dachte Leonardo.
Zwei Krähen kreisten um die Laterne und krächzten streitlustig, weil die Arbeiten ihren gewohnten Gang störten. Selbstvergessen schaute Leonardo den Vögeln zu, wie immer fasziniert von der scheinbaren Mühelosigkeit, mit der sie sich in der Luft bewegten. Ich blicke von hier auf die Stadt und die Menschen hinunter wie sie, wurde ihm bewusst. Aus solcher Höhe wirkt alles viel kleiner und erheblich unbedeutender.
Die Straßen des Stadtzentrums breiteten sich strahlenförmig unter ihm aus wie die Speichen eines Rads. Von dort, wo er stand, konnte er die Via Ghibellina sehen, in der sich Verrocchios Werkstatt befand. Leonardo stellte sich vor, wie es wäre, so mühelos, von riesigen Flügeln getragen, dorthin zu segeln. Ja, groß mussten
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