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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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die Flügel schon sein, wenn sie das Gewicht eines Menschen tragen sollten. Ihre Spannweite musste womöglich ein Zehnfaches dessen betragen, womit Engel auf Abbildungen ausgestattet waren. Aber Engel hatten ja auch kein Gewicht, wie Ser Piero ihm einmal vorgehalten hatte. Doch vielleicht könnten Menschen auch mit kleineren Flügeln fliegen, wenn sie diese so schnell bewegten wie eine Hummel…
    Das Gerüst vibrierte unter seinen Füßen, weil einige Arbeiter heraufgeklettert kamen, um die Kugel an ihre richtige Position zu dirigieren. Die Trompeten unten auf dem Platz erschallten abermals.
    Manche Vögel können sehr lange segeln, ohne ihre Flügel zu bewegen, sinnierte Leonardo weiter. Sie lassen sich einfach vom Wind tragen. Wenn man nun ein Gefährt mit Flügeln baute, in dem man sitzen konnte, und man schob es von einem Berg…
    »Stehst du tatsächlich hier und träumst? In so einem Moment?« Verrocchio war neben Leonardo auf dem Gerüst aufgetaucht. Er wirkte nervös.
    »Ich habe gerade darüber nachgedacht…«
    »Nachgedacht? Dafür ist es jetzt zu spät. Es wird ernst!«
    Die Kupferkugel war bei der Laterne angelangt. Mit einem Mal hatte das Kunstwerk wieder ungeheure Ausmaße. Wenn sie jetzt runterfällt, schlägt sie ein gewaltiges Loch in den Boden, dachte Leonardo, und die Erde erzittert wie bei einem Erdbeben…
    Verrocchio gab die verabredeten Zeichen nach unten und oben, und der von Brunelleschi entworfene Kran oben auf der Laterne schwenkte langsam herum. Hände griffen zu Führungsseilen und bugsierten die Kupferkugel die letzten Fingerbreit bis zu ihrer richtigen Position. Verrocchio legte den Kopf in den Nacken und konzentrierte den Blick auf die Unterseite seines Kunstwerks. Mit ausgebreiteten Armen gab er den Arbeitern Anweisungen.
    Das Manöver glückte auf Anhieb, die Kugel senkte sich genau dort herab, wo sie hingehörte. Jetzt wurde auf dem Platz so laut trompetet und gejubelt, dass es sogar hier oben noch fast ohrenbetäubend war.
    »Herzlichen Glückwunsch!«, sagte Leonardo. »Welche Präzision!« Aus seiner Stimme sprach aufrichtige Bewunderung. Er hatte selbst an der Gussform mitgebaut, doch die Maßarbeit stammte einzig und allein von Verrocchio.
    »Das Ding hat mich etliche schlaflose Nächte gekostet«, gestand Verrocchio. Er gab Instruktionen, wie die Kugel festzulöten sei. »Jetzt nur noch das Kreuz.«
    Sowie alles an seinem Platz war, kamen die Chorherren zum Tedeum herauf, und jedermann legte das Werkzeug aus der Hand und lauschte mit gesenktem Kopf.
    Leonardo war der Einzige, der währenddessen zum Himmel hinaufschaute. Es ist ein Wunder, dachte er, dass Menschen so etwas Schönes vollbringen können, wo sie doch zugleich imstande sind, einander das fürchterlichste Leid anzutun. War ihr Schöpfer womöglich gestört?
    Er erschrak über seine eigenen Gedanken, und das nicht zum ersten Mal. Es geschah immer häufiger, dass sein reger Geist ihn an dunkle, verwirrende Orte entführte, an denen er lieber nicht länger verweilte.
    »Sie kommen hier oben jetzt auch ohne uns zurecht«, sagte Verrocchio zu ihm. »Wollen wir ein bisschen feiern gehen?« Er sah mit einem Mal wesentlich entspannter aus, ganz so, als sei ihm eine schwere Last von den Schultern gefallen – eine gut zwei Tonnen schwere Last, um genau zu sein.
    »Ich finde die Aussicht hier oben so schön«, sagte Leonardo. Er schaute nach Westen, Richtung Pisa. Bei klarer Sicht müsste man von hier aus das Meer sehen können, dachte er.
    »Komm schon, Junge, du träumst zu viel.« Verrocchio machte sich an den Abstieg.
    Leonardo folgte ihm, aber nicht ohne noch einen letzten Rundblick gemacht zu haben. Auf die Stadt aus der faszinierenden Vogelperspektive…
    »Ich habe gerade wieder einmal in den Schriften des Archimedes gelesen«, sagte Leon Battista Alberti. »Magst du etwas darüber hören?«
    Es dauerte einige Sekunden, bis bei Leonardo angekommen war, was Alberti gesagt hatte. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen, wie es ihm häufiger passierte, wenn er auf dem Rücken eines Pferdes durch den Wald streifte. Reiten war eines der wenigen Mittel, das die sonst fast immer spürbare Verspannung in Nacken und Schultern vergessen machen konnte. Er war Alberti dankbar, dass er ihn hin und wieder zu einem Ausritt einlud.
    »Natürlich möchte ich etwas darüber hören«, sagte er eilends.
    Alberti nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Er bückte sich kurz vor einem herabhängenden Ast und sagte dann: »Ein

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