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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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mathematisches Genie ohnegleichen, und das mehr als zweihundert Jahre vor Christi Geburt.« Er schüttelte den Kopf. »Warum sind manche Menschen um so vieles klüger als der Rest? Offenbar hat Gott keine so große Vorliebe für Menschen, die denken können, sonst hätte er mehr von ihnen gemacht.«
    »Der Papst rät jedenfalls sehr vom Denken ab.«
    Alberti warf Leonardo einen kurzen Seitenblick zu. »An deiner Stelle wäre ich vorsichtig mit solchen Äußerungen, junger Mann.«
    »Ich gehe nicht damit hausieren.« Und die Bäume werden es nicht weitersagen, dachte er. Von Leon wusste er inzwischen, dass dieser ein weitaus freierer Geist war, als er es im Allgemeinen zu erkennen gab.
    »Hm…«, Alberti setzte sich im Sattel zurecht. »Wenn einem Parabelsegment das Dreieck mit gleicher Grundlinie und Höhe eingeschrieben wird und den Restsegmenten wiederum die Dreiecke, die mit ihnen gleiche Grundlinie und Höhe haben, so wird das dem ganzen Segment eingeschriebene Dreieck einen achtmal so großen Inhalt haben wie jedes der den Restsegmenten eingeschriebenen Dreiecke.« Er schüttelte den Kopf. »Vor mehr als siebzehn Jahrhunderten aufgestellt!«
    Leonardo wunderte sich nicht darüber, wie beiläufig Alberti den Lehrsatz aus dem Kopf zitiert hatte. Er hatte sich an seine wissenschaftliche Beschlagenheit gewöhnt. »Ich weiß eine Million Dinge, doch mir fehlt das Vermögen, neue Zusammenhänge daraus abzuleiten«, hatte Alberti ihm einmal anvertraut. Es hatte frustriert geklungen. »Mein Geist ist wie ein Schwamm, der Wissen aufsaugt, aber leider kann ich auch nicht mehr damit anfangen als ein Schwamm. Außer vielleicht, ein unbedarftes Publikum zu verblüffen…«
    Um genau diese Eigenschaft beneidete Leonardo ihn manchmal. Seine Eloquenz und Redegewandtheit sowie die Eleganz, mit der er sich kleidete und zu Fuß und zu Pferd bewegte, hatten Alberti, obwohl nicht aus einflussreichem Hause stammend, viele Türen geöffnet, bis hin zu denen von Palästen. Leonardo fehlte ein solches Flair, und sein gutes Aussehen konnte das nur teilweise wettmachen. Er hätte sich natürlich das eine und andere aneignen können, doch er fürchtete zu sehr, sich dann womöglich lächerlich zu machen. Zumal Verrocchio in diesem Zusammenhang einmal zu ihm gesagt hatte: »Du brauchst nicht den Clown zu spielen, deine Kunst wird für sich sprechen…«
    Sie waren inzwischen durch die Porta alla Croce in die Stadt zurückgeritten und hatten den Arno vor sich, als Alberti sagte: »Das Element Wasser spielt in Archimedes’ Werken auch eine große Rolle. Wie zum Beispiel in seiner höchst interessanten Abhandlung über schwimmende Körper.«
    »Hm, ja, über den Schiffsverkehr hier habe ich auch schon nachgedacht«, erwiderte Leonardo. Sinnierend ergänzte er: »Wenn man den Fluss begradigte und vertiefte, wäre Florenz für weit größere Schiffe erreichbar. Das würde dem Geschäftsleben doch sehr zugutekommen. Wäre das nicht eine Überlegung wert?«
    »Ein faszinierender Einfall, durchaus. Man sollte ihn einmal Lorenzo de’ Medici unterbreiten. Er kann ja den Adel für die Kosten aufkommen lassen, darin ist er gut.«
    »Es hätte allerdings einen ästhetischen Nachteil: Begradigte Ufer nähmen der Stadt etwas von ihrer Anmut. Und ich frage mich auch, ob die alljährlichen Überschwemmungen dann nicht womöglich noch schlimmer ausfielen.«
    »Was willst du denn nun eigentlich?«
    Leonardo zog die Schultern hoch. »Das sind eben reine Gedankenspiele.«
    »Für ein Künstlerhirn aber schon ungewöhnliche Gedankenspiele.«
    »Kunst und Wissenschaft ergänzen sich, Leon. Oft fängt die Kunst dort an, wo das Wissen endet.« Leonardo stemmte sich kurz in die Steigbügel, als sein Pferd auf einem glatten Stein ausrutschte. »Und dann überfällt dich plötzlich der Gedanke, dass du dir im Nu das Genick brechen kannst und mit einem Mal alles vorbei ist…«
    »Woher diese schwarzseherische Anwandlung?«
    »Ach, ich habe schlecht geschlafen. Und dann kommen mir oft Gedanken über den Wahnsinn des Menschen und die Sinnlosigkeit der Existenz. Warum bringen wir uns gegenseitig um, wo es doch so viel einfacher und angenehmer wäre, in Harmonie miteinander zu leben? Und warum lässt Gott diesen Wahnsinn zu, wo er mit einem Fingerschnippen aus jedem Menschen auf der Welt ein perfektes Wesen machen könnte?«
    »Schon wieder gefährliche Gedanken, Leonardo.«
    »Weil sie wahr sind?«
    »Jeder hat seine eigene Wahrheit, aber es gibt nur eine, die

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