Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
Vom Netzwerk:
blieb stehen und starrte zum Dom und der glänzenden Kugel auf seiner Kuppel hinüber. Dort hatte er gestanden und auf die Stadt hinuntergeschaut. Die Höhe hatte damals etwas Befreiendes für ihn gehabt, als sei er dort nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinne den Niederungen des Plebs unten am Boden enthoben und an einem Ort gewesen, wo er für niemanden mehr erreichbar war, geschweige denn, dass man ihn mit unerfüllbaren Forderungen hätte behelligen können.
    Fliegen, dachte Leonardo zum wiederholten Mal in seinem noch jungen Leben. Warum nur ist der Mensch an den Boden gefesselt? Er ließ den Blick über die Dächer der höheren Häuser wandern. Wenn er nun auf einem dieser Dächer ein Gefährt mit Flügeln baute, in das er sich hineinlegen und von dem Gebäude hinunterschieben lassen könnte? Wenn er die richtigen Berechnungen anstellte, würde er nicht abstürzen, sondern von der Luft getragen wie ein Vogel zu Boden schweben. Und wenn das gelang, könnte er es von einer Anhöhe aus probieren, und danach von einem Berg…
    Noch tiefer in Gedanken verloren als sonst spazierte Leonardo auf den Ponte Vecchio mit seinen vielen kleinen Läden. Er blieb bei einem Händler stehen, der Singvögel verkaufte. Betrübt schaute er auf die nervös in ihren Käfigen hin und her hüpfenden Tierchen, überwiegend Meisen und verschiedenerlei Finken. Zum Singen war ihnen offensichtlich nicht zumute, man hörte nur ein verschüchtertes Piepsen und Tschilpen und das panische Flattern von Vögeln, die nicht zu verstehen schienen, warum der Käfig sie am Davonfliegen hinderte.
    Spontan kaufte Leonardo zwei Kanarienvögel, die sich in einem viel zu kleinen Käfig aneinanderdrückten. Er bezahlte die Hälfte von dem, was der Händler verlangte, aber dessen Miene verriet, dass er dennoch ein gutes Geschäft gemacht hatte.
    Mit dem Käfig ging Leonardo zur Mitte der Brücke, wo sich keine Läden befanden, und stellte ihn auf die Steinbrüstung. Als er das Türchen öffnete, piepsten die Kanarienvögel, bewegten sich aber nicht vom Fleck. Es war, als hätten sie Angst vor der unverhofft winkenden Freiheit. Bis der eine der beiden sich gleichsam einen Ruck gab und mit einem Satz im Türchen niederließ, wo er kurz balancieren musste, weil er mit seinen Krallen keinen rechten Halt auf dem schmalen Rahmen fand. Im nächsten Augenblick flog er davon und steuerte scheinbar zielstrebig auf eine Baumreihe am rechten Flussufer zu, wo er im Laub verschwand.
    »Und du?« Leonardo hob den Käfig hoch, um sich den anderen Kanarienvogel aus der Nähe anzusehen. »Glaubst du etwa, ich bin nicht ganz bei Trost? Keine Angst, ich habe schon häufiger Vögel freigelassen. Was hast du denn so Schlimmes angestellt, dass man dich eingesperrt hat?«
    Der Kanarienvogel piepste leise und drückte sich in die hinterste Ecke des Käfigs. Er hatte sich derartig aufgeplustert, dass er beinahe kugelrund war. Da sah Leonardo plötzlich die kleinen Geschwüre um die Augen des Vogels und an seinen Krallen. Er kannte das, der Vogel hatte die Schnappkrankheit. Damit würde er höchstens noch drei Tage überleben, falls er nicht schon vorher gefressen oder totgetreten wurde.
    Leonardo hob einen Stein auf, legte ihn in den Käfig und machte das Türchen wieder zu. Dann warf er den Käfig ins Wasser. Er trieb noch einige Sekunden lang in der Strömung und ging schließlich unter.
    Wir haben das Leben zur Hälfte in der Hand, hatte Leonardo irgendwo gelesen. Verlängern können wir es nicht, aber notfalls verkürzen. Ihm war der Gedanke, dass man aus dem Leben aussteigen konnte, wenn es zu schlimm wurde, tröstlich erschienen. Vorausgesetzt, man hatte den Mut dazu. Oder es gab eine gute Seele, die einem half…
    Seine trübsinnige Stimmung ging ihm selbst auf die Nerven. Er überquerte die Brücke und steuerte entschlossen auf das ›Monte Rosa‹ zu.
    Der schmucklose Schankraum des Wirtshauses war zu dieser Zeit des Tages so gut wie verlassen. Einzige Gäste waren zwei ältere Männer, die an einem Tisch am Fenster mit Blick auf den Arno saßen und schwatzten. Leonardo erkannte in dem einen den Wamsmacher Baccino, den Leon Battista Alberti ihm einmal vorgestellt hatte, als sie hier nach einem ihrer Ausritte vor den Toren der Stadt ein Glas Wein getrunken hatten. Der Mann sah ihn aber nicht.
    Leonardo setzte sich mit dem Rücken zu den beiden Männern an das andere, kleinere Fenster. Es dauerte eine Weile, bis der Wirt an seinem Tisch erschien, ein etwas

Weitere Kostenlose Bücher