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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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laut durch den schwarzen Gang, doch es kam keine Antwort, und die Schritte wurden auch nicht unterbrochen.
    Leonardos Gedanken sprangen hin und her wie Mäuse im Käfig, doch sie kehrten immer wieder zu dem jetzt ganz nahe scheinenden Moment seiner Verurteilung zurück. Er würde sich verteidigen müssen, aber er wusste nicht, wie. Er wusste ja nicht einmal, wofür! Wo sollte man anfangen, wenn man sich keiner Schuld bewusst war?
    Jetzt würde er das Porträt von Ginevra nicht fertigstellen können, und auch das Gemälde von Magdalena und ihren Kindern nicht. Das betrübte ihn für einen Moment mehr als alles andere.
    In seinem Kopf spukte das Bild von den eingesperrten Vögeln herum, die er gekauft hatte, um sie dann freizulassen. Eingesperrt zu sein war schrecklich. Jetzt, da es ihm selbst widerfuhr, schien es ihm noch tausendmal schlimmer zu sein, als er es sich je vorgestellt hatte.
    Seine Gedanken taten einen neuerlichen Sprung, jetzt zu der Tür neben ihm und ihrem Schließmechanismus. Er musste sich etwas einfallen lassen, wie er sie öffnen könnte. Schlösser waren von Menschen gemacht und somit nicht unüberwindbar. Alles Menschengemachte, mochte es auch noch so ingeniös sein, konnte von anderen Menschen zerstört werden. Immer gab es jemanden, der noch ein kleines bisschen raffinierter war. Vielleicht sollte er, wenn er hier herauskam, einmal einen Mechanismus entwerfen, mit dem man von außen verschlossene Türen von innen öffnen konnte.
    Wenn er hier herauskam…
    Erst als gegen Ende einer schier endlos erscheinenden Nacht das erste Morgengrauen durch ein kleines Fenster im Gang hereinsickerte, döste Leonardo kurz ein. Doch sogleich befiel ihn wieder dieser Alptraum vom Armageddon, der ihn schon seit seiner Kindheit ab und an quälte. Von den drei unreinen Geistern, die bei ihrer endzeitlichen Entscheidungsschlacht gegen Gott die ganze Welt in Brand setzten…
    Leonardo fuhr hoch und starrte einige Augenblicke lang verstört durch das Gitter der Zellentür in das Grau des Gangs. Sein vom stundenlangen Sitzen auf dem harten Boden steif gewordener Körper tat ihm überall weh, und er wankte kurz, als er sich hochrappelte, um zu dem Stuhl zu stolpern, auf dem er sich ächzend wieder niederließ. So dürfte man sich fühlen, wenn man achtzig ist, dachte er bitter, und diese Aussicht erschien ihm wenig verlockend.
    Er war durstig, aber er hatte nichts zu trinken. Hinter der Zelle befand sich noch ein kleiner Verschlag, doch dort stand nur ein stinkender Holzbottich, in den man seine Notdurft verrichten konnte.
    Allmählich drangen Geräusche aus dem Gebäude an sein Ohr, Schritte, Stühlerücken, Türenschlagen, entfernte Stimmen, allerlei Anzeichen menschlicher Aktivität. Doch vorläufig ließ sich niemand blicken. Schon seit geraumer Zeit fiel jetzt ein schmaler Streifen Sonnenlicht durch das Fenster im Gang herein, und Leonardo begann allmählich zu fürchten, dass sie ihn einfach in seiner Zelle verrecken lassen würden. Doch dann wurde irgendwo eine Tür aufgestoßen, und Schritte näherten sich.
    Es war ein Wärter, gefolgt von einem ganz in braunen Samt gekleideten rundlichen kleinen Mann mit klebrigen schwarzen Haaren. Ser Paolo di Davillio, der Anwalt, der seinerzeit Leon Battistas Testament eröffnet hatte!
    Der Wärter öffnete stumm die Tür zu Leonardos Zelle, und Davillio, ein mit einer Schleife zusammengebundenes Bündel Papiere unter dem Arm, trat ein.
    »Mach dich nützlich, und bring mir einen zweiten Stuhl«, wies er den Wärter in einem Ton an, der keinen Widerspruch zuließ. Gleichzeitig bedeutete er Leonardo, dass er ruhig sitzen bleiben solle. »Herr Leon Battista Alberti hat mir einst aufgetragen, Ihnen juristischen Beistand zu geben, wann immer Sie ihn benötigen sollten. Da bin ich also. Wo bleibt denn jetzt dieser Trottel?« Er schaute ungeduldig in den Gang, in dem sich der Wärter ohne jede Eile mit einem Stuhl näherte. »Menschen bewachen, die ohnehin nicht fliehen können, was für ein Beruf!« Davillio schüttelte den Kopf.
    »Ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte Leonardo, als der Anwalt seine Mappe auf den Tisch warf und sich setzte.
    »Das wird sich noch zeigen. Warten Sie, bis Sie meine Rechnung bekommen haben.« Davillio grinste. Er löste die Schleife von den Papieren. »Sodomie, hm?«
    »Üble Nachrede«, sagte Leonardo. »Da will mir einer einen bösen Streich spielen!«
    »Und das ist ihm oder ihr recht gut gelungen.« Davillio hielt eines der Papiere in das Licht

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