Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
in ein und demselben Viertel im Süden der Stadt. Aber es dauerte nicht lange, bis es die ersten Toten gab und sich die Seuche wie ausströmendes Wasser verbreitete.
Es war um vieles schlimmer als das, was Leonardo seinerzeit in Florenz miterlebt hatte. Schon bald hatte man weder Zeit noch Platz genug, um die vielen Toten zu begraben, und so errichtete man große Scheiterhaufen auf der vom Wind abgewandten Seite Mailands, um die grausig entstellten Leichen zu verbrennen. Den ganzen Tag über und oft sogar noch nachts rumpelten Fuhrwerke durch die Stadt, mit denen die vielen Toten abgeholt und zu den Scheiterhaufen transportiert wurden. Alle anderen Aktivitäten kamen praktisch zum Erliegen. Die Straßen waren wie ausgestorben und wurden zum Tummelplatz für die vielen Ratten. Die Mailänder verschanzten sich in ihren Häusern und blickten furchtsam und mit Schaudern auf die vorüberfahrenden Leichenwagen hinaus. Ununterbrochen läuteten die Kirchenglocken, dumpf und düster, als sollte der Frühling mit seiner unangebrachten Frische und Fröhlichkeit in seine Schranken verwiesen werden. Erschöpfte Ärzte und Priester schleppten sich von einem hoffnungslosen Fall zum nächsten, ohne viel mehr tun zu können, als den Angehörigen, die noch auf den Beinen waren, den Rat zu geben, die Leichen so rasch wie möglich aus dem Haus zu schaffen.
Im Castello Sforzesco gab es vorerst keine Opfer. Und das wollte Il Magnifico auch so halten. Als die Krankheit wild um sich zu greifen begann, erließ er sofort den Befehl, dass ein jeder, der nicht zu seinem persönlichen Hofstaat gehörte, das Schloss verlassen musste. Offenbar hatte ihm irgendwer eingeflüstert, dass das beste Mittel gegen eine Ansteckung darin bestand, sich möglichst von allen anderen Menschen fernzuhalten. Manche Ärzte behaupteten schließlich, die Pest springe wie ein Raubtier von Kranken auf Gesunde über, wenn sie die Gelegenheit dazu habe. Warum und weshalb das so sein sollte, konnte allerdings niemand erklären.
Ungläubig starrte Leonardo auf den schlampig abgefassten Brief, den ihm jemand unter seiner Zimmertür hindurchgeschoben hatte, ohne sich zu erkennen zu geben. Wie etlichen anderen wurde Leonardo darin genau ein Tag Zeit gegeben, das Schloss zu verlassen.
Er sank auf seine Bettkante nieder und versuchte nachzudenken. Er hatte ein Pferd und einen Wagen, er konnte der kranken Stadt entfliehen. Aber wohin? Und war es nicht so wie in dem Gedicht, dass der Tod jeden einholte, den er haben wollte, mochte er auch noch so schnell und weit davonlaufen?
Leonardo schreckte hoch, als energisch an seine Tür geklopft wurde. Bevor er reagieren konnte, trat ein Lakai ein und schloss eilig die Tür hinter sich, als sei ihm jemand auf den Fersen. Ohne Einleitung sagte er: »Der Regent lässt Ihnen hiermit die Wegbeschreibung zu seinem Haus in der Pfarrei San Vincenzo überbringen. Es steht zurzeit leer, und Sie können dort wohnen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass es ganz in der Nähe der Werkstatt der Brüder de Predis ist.« Der Mann huschte zur Tür zurück und war verschwunden, bevor Leonardo noch etwas fragen konnte.
Die Straßen von Mailand waren der blanke Horror. Der Wind hatte gedreht, und über der Stadt hing der Rauch der Scheiterhaufen wie ein stinkendes Leichentuch. Da und dort lagen noch nicht abgeholte Tote, an denen sich Ratten und Hunde gütlich taten, und zweimal sah Leonardo jemanden auf der Straße krepieren. Die Fenster von Läden, in denen es einmal Lebensmittel zu kaufen gab, waren eingeworfen worden, die Regale geplündert.
Kinder irrten umher, manche mit schwarzen Beulen im Gesicht und vom Fieber blutunterlaufenen Augen, andere allem Anschein nach noch nicht angesteckt. Vielleicht waren ihre Eltern tot oder krank. Sie bettelten die vereinzelten Passanten um Essen an, wurden aber unwillig und mit Schaudern weggescheucht. Aus Angst vor dem Schwarzen Tod schienen alle wie von Sinnen zu sein.
Leonardo fand das Haus, das Sforza ihm zugewiesen hatte, ohne große Mühe. Es befand sich in der Tat ganz in der Nähe der Werkstatt der de Predis. Doch die war geschlossen, und es kam niemand an die Tür, als er anklopfte, um zu fragen, ob er Pferd und Wagen im angrenzenden Stall unterstellen könne. Also tat er es ohne ausdrückliche Genehmigung.
In dem Haus standen einige einfache Möbelstücke, und es gab auch das Nötigste, um sich etwas kochen zu können, wie er feststellen konnte, nachdem er die Fensterläden auf Vorder- und Rückseite
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