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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Vermeulen
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empfinden. Die Vögel hörten auf zu singen, Katzen suchten sich ein Versteck, und Hunde und Wölfe begannen zu heulen.
    Leonardo war offenbar nicht der Einzige in der Runde, den bei Braganttis Äußerung ein ungutes Gefühl beschlich, denn im Salon, den gerade eben noch die angenehm beschwingten Klänge von Leonardos Lira erfüllt hatten, blieb es danach eine Weile bedrückend still. Bis Ludovico Sforza mit gefurchter Stirn fragte:
    »Bist du dir bei dieser Prophezeiung sicher, Giovanni?«
    »Das ist keine Prophezeiung, sondern eine Berechnung, die ich wie andere Astronomen auf der Basis von Beobachtungen der Sonne und des Mondes angestellt habe. Ein Irrtum ist ausgeschlossen.«
    »Und wie wirkt sie sich aus?«
    Es wird zu einer kurzfristigen Verdunkelung und Abkühlung kommen, wollte Leonardo sagen, aber Benedetto Dei kam ihm zuvor: »Ich habe gehört, dass es in der Nähe von Ferrara einige Fälle von Pest geben soll.«
    »Ich habe in Florenz schon einmal einen Ausbruch der Seuche erlebt«, sagte Leonardo. »Es gab bei weitem nicht so viele Tote, wie immer und überall behauptet wird. Die meisten Menschen wurden gar nicht krank, meine Wenigkeit eingeschlossen.« Er fragte sich, wen er damit zu beruhigen versuchte, die anderen Anwesenden oder sich selbst. »Und es gab auch solche, die Pestbeulen bekamen und dennoch wieder genesen sind, das habe ich selbst gesehen.«
    »Ich habe die Pest mehr als nur einmal erlebt«, bestätigte Dei. »Im Ausland. Und man sieht, dass ich trotz meines fortgeschrittenen Alters immer noch gesund bin. Abgesehen von meinen schmerzenden Schultern, meinen lädierten Knien und Füßen, meiner Kurzatmigkeit, meinem Herzrasen, meinem steifen Rücken und Nacken, meinen Schwindelattacken und meiner chronischen Verstopfung.«
    Es gab ein paar Lacher, und das vertrieb die plötzlich entstandene Angespanntheit.
    »Das beste Mittel gegen die Trübsal einer Sonnenfinsternis befindet sich in einem hölzernen Fass«, sagte Ludovico Sforza. Er hob seinen leeren Römer, und ein an der Tür wartender Page sputete sich, seinen Herrn und Meister zu bedienen.
    Leonardo blendete das angeregte Gespräch, das gleich darauf einsetzte, aus. Er starrte durch eines der Fenster auf den hoch am Himmel stehenden Mond hinaus, der mit seinem kalten Licht mühelos mit den Öllampen und Kerzen im Raum konkurrieren konnte.
    Leonardo wusste, dass er seine Gemütsruhe vorerst nicht wiederfinden würde, da halfen alle Beschwichtigungen nichts.
    Die Sonnenfinsternis trat genau zu dem von dem Astronomen vorhergesagten Zeitpunkt ein.
    Leonardo schaute sich durch ein Blatt Papier, in das er winzige Löcher gestochen hatte, an, wie die Sonne gleichsam verspeist wurde. Zuerst fehlte nur ein kleiner Bissen vom Rand, dann fraß sich das Schwarz immer weiter, bis von der Sonne nur noch ein Kranz blendend heller Strahlen blieb, die zu allen Seiten züngelten wie die brennende Mähne eines Löwen.
    Im Garten, in dem Leonardo mit einigen anderen Neugierigen stand, wurde es dunkler als in der Abenddämmerung. Die Blumen hatten keine Farbe mehr, die Vögel hörten in der Tat auf zu singen, und in der Ferne begannen einige Straßenhunde gespenstisch zu heulen.
    »Da kommt mir spontan ein Gedicht in den Sinn«, kündigte Bellincioni an.
    »O mein Gott, lass diesen Kelch an mir vorübergehen!«, flehte Leonardo, der schräg hinter ihm stand.
    Bellincioni spähte wie er durch ein perforiertes Blatt Papier auf das beunruhigende Geschehen am Himmel. Leonardos Ausruf veranlasste ihn, sich missvergnügt umzudrehen. »Die Poesie ist eine hohe Kunst, die nicht von jedermann verstanden wird«, sagte er vorwurfsvoll.
    » Poesie verstehe ich sehr wohl«, entgegnete Leonardo ironisch.
    In Momenten wie diesen wollte er seine Ruhe haben, seinen Gedanken freien Lauf lassen. Viele dieser Gedanken waren Fragen, die ihm, wie er wusste, niemand beantworten konnte. So fragte er sich jetzt, die Augen auf die schwarze Sonne gerichtet, wohin das Licht entschwinden mochte, wenn seine Quelle versiegte. Warum existierte das Licht nicht weiter, wenn es einmal erzeugt war? Löste es sich in Luft auf wie die Wärme eines ausgehenden Feuers? Und wohin verschwand die gestrige Zeit oder die Zeit vor fünf Sekunden? Löste sich auch die Zeit in Luft auf, sobald sie vorüber war? Und bedeutete das, dass das Heute wieder und wieder und wieder neu geschaffen wurde…?
    Drei Tage später erreichte der Schwarze Tod Mailand. Es begann mit höchstens einem Dutzend Kranken, alle

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