Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Schmetterling.
In seiner Erinnerung blitzte das Bild von dem Milan auf, der sich frech auf seinem Kinderwagen niedergelassen hatte, um ihm aus nächster Nähe in die Augen zu schauen. Er hatte schon seit geraumer Zeit keinen Milan mehr gesehen. Ich muss wieder häufiger hinausgehen, nahm Leonardo sich vor. Raus aus den Mauern der Stadt, die sein Lebensumfeld begrenzten und den Blick für die scheinbar endlose Weite der Wiesen, Wälder und Berge verstellten. Zum Ersticken! Die Gärten des Castello Sforzesco, so schön sie auch angelegt sein mochten, waren die ganze Zeit nur ein schwacher Ersatz für die wahre Natur gewesen.
Leonardos Geist kehrte in die Realität des Hier und Jetzt zurück. Er fragte sich, wie er Mathurina finden könnte, wenn sie denn überhaupt in Mailand war. Vielleicht würden ihm die Brüder de Predis helfen können, und wenn nicht, konnte er sich vielleicht an das Rathaus wenden. Aber nicht jetzt. Jetzt hatten alle andere Sorgen.
Er ging in die Küche, um einen Krug zu suchen.
Leonardo wurde auf dem kalten Boden des Wohnzimmers wach, wo er vor Stunden stockbetrunken umgefallen war. Es war Nacht. Fahles Mondlicht fiel durch die Fenster herein, deren Läden er nicht wieder geschlossen hatte. Benommen setzte er sich auf.
Seine rechte Gesichtshälfte war vom Liegen auf dem harten Fliesenboden ganz gefühllos geworden. Als er seine Wange betastete, stellte er fest, dass Sand daran haftete. Aber er schien keine Rattenbisse zu haben, jedenfalls keine, die schmerzten.
Er musste dringend seine Blase entleeren, der Druck darauf hatte ihn wahrscheinlich geweckt. Er rappelte sich hoch und wankte zur Hintertür. Es dauerte ein Weilchen, bis er den Riegel ertastet hatte und hinauskonnte, um sich zu erleichtern.
Die Luft war kühl und feucht und der Himmel sternenlos, aber der Todesgestank hatte sich verflüchtigt, weil der Wind offenbar wieder gedreht hatte. Auch die Kirchenglocken schwiegen zum Glück. Vielleicht fand man keine Freiwilligen mehr, die sie läuteten. Leonardo erinnerte sich, dass er einmal einen von Eseln getriebenen Mechanismus zum Läuten der Kirchenglocken entworfen hatte, für den er aber keine Interessenten fand. Man konnte sich wohl nicht recht mit dem Gedanken anfreunden, dass Esel diese Aufgabe übernahmen.
Leonardo fröstelte, als er wieder hineinging. Er erwog, ein Feuer zu machen, um die Kälte aus dem Haus zu vertreiben, die Kälte und die Einsamkeit. Aber er ließ es dann doch bleiben.
Einsamkeit, dachte er, als er sich in den jetzt pechschwarz aussehenden Ledersessel setzte. Einsamkeit war etwas, worüber er noch nie länger nachgedacht hatte. Denn er war gern mit seinen Gedanken allein. Er hatte durchaus etwas für ein gutes Gespräch übrig und für das Musizieren vor Publikum, aber ihm fehlte nichts, wenn er auf sich allein angewiesen war. Im Gegenteil, er wurde anderer schnell überdrüssig, wenn sie nichts Sinnreiches zu erzählen hatten. Tieren konnte er nach wie vor weit mehr abgewinnen. Vor allem, weil sie nicht verlogen waren.
Er fragte sich gelegentlich, ob er mit einem anderen Menschen unter einem Dach zusammenleben und Tisch und Bett mit ihm teilen könnte. Er bezweifelte das. Und dennoch…
Leonardo seufzte, lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. Er versuchte wieder einzuschlafen, doch die Wirkung des Biers war verflogen, und in seinem Hirn hatte wieder das ewige Wüten eingesetzt.
Ob es wohl tiefe Nacht oder schon fast wieder Morgen war? Es war still draußen, jetzt, da die Glocken schwiegen. Kein Hufgeklapper, keine ratternden Wagenräder. Für einen Moment befiel ihn der erschreckende Gedanke, dass womöglich die ganze Stadt tot war. Ein absurder Gedanke, den er sogleich ärgerlich verscheuchte.
Ihm wurde bewusst, dass er sich in der relativ kurzen Zeit doch sehr an die Geborgenheit im Castello Sforzesco gewöhnt hatte. »An nichts gewöhnt man sich so schnell wie an Komfort und Bequemlichkeit«, hatte Leon Battista Alberti einmal zu ihm gesagt.
Und so brütete Leonardo weiter über allerlei unerquickliche und verwirrende Dinge, bis Eos mit ihrem Gespann über den östlichen Himmel fuhr. Da erst, als das bedrohliche Dunkel der Nacht allmählich vertrieben wurde, fiel er erneut in Schlaf.
15
Scheinbar nach einer Ewigkeit schlich sich der Schwarze Tod wieder davon, lautlos und unsichtbar, wie er gekommen war, wie ein Raubtier, das vorübergehend gesättigt ist und sich zu neuen Jagdgründen aufmacht.
Mit der Seuche verschwand auch der
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