Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Erscheinung, Ihrem Künstlerstatus. Der erlauchte Herr Sforza hat recht, wenn Sie erlauben, dass ich das sage, Sie kleiden sich allzu gedeckt. Darf ich Sie bitten, die Kleidungsstücke einmal anzuprobieren, Meister da Vinci?«
»Rosenrot!« Kopfschüttelnd leistete Leonardo der Bitte des Schneiders Folge. Dann betrachtete er sich kritisch in dem großen Spiegel des unordentlichen Raums, der eigens solchen Zwecken zu dienen schien.
Er hatte erwartet, dass er wie ein Narr aussehen würde, doch das war nicht so. Die Farbe sprang zwar ins Auge, aber der Stoff wirkte edel und saß wie angegossen. Ihm war, als habe er dort im Spiegel jemand anderen vor sich. Und doch auch wieder nicht. Sowohl der Schneider als auch Ludovico Sforza schienen sein Äußeres besser beurteilen zu können als er selbst. Je länger Leonardo sich von allen Seiten im Spiegel betrachtete, desto stärker wurde sein Empfinden, dass es in der Tat sein wahres Ich sein könnte, das er dort sah. Er musste sich eingestehen, dass er von jeher zu wenig Wert auf seine äußere Erscheinung gelegt hatte. Vielleicht, weil er zu oft und zu leicht Komplimente für sein Aussehen bekommen hatte. Das war für ihn schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Doch inzwischen hatte er die dreißig überschritten, und die makellose Glätte seiner Züge schwand allmählich.
Mit einer schwungvollen Bewegung warf er sich den schwarzen Mantel um die Schultern und betrachtete sich erneut.
Er nickte im Spiegel dem Schneider zu, der abwartend hinter ihm stand und zuschaute. »Kompliment! Es erstaunt mich nicht, dass Il Moro unter den vielen Schneidern Mailands gerade Sie ausgewählt hat.«
Die beifälligen Worte schienen den Schneider nicht sonderlich zu beeindrucken. Er lächelte nur leicht, als er sagte: »Es gehören noch ein Barett und Stiefel aus Sämischleder dazu, in der gleichen Farbe. Wollen wir die auch kurz anprobieren, Meister?«
Als der Schneider gegangen war, trat Leonardo an das vergitterte Fenster, um auf die verlassenen Gärten des Schlosses hinauszuschauen, in denen jetzt viele Bäume und Pflanzen in Blüte standen. Es war ein geradezu paradiesischer Anblick, vor allem, wenn eine leichte Brise die Blüten bewegte und das Farbenmeer in einem Auf und Ab von Hell und Dunkel zu wogen schien.
Leonardo wollte ins Freie. Um der Welt sein neues Ich zu zeigen.
Leonardo fühlte die Blicke auf sich, als er auf seinem Hengst, der wegen des Gedränges ein wenig unruhig war, durch die Straßen der Stadt ritt. Aber er sah keinen Spott in den Mienen, wie er es befürchtet hatte, sondern eher eine Mischung aus Bewunderung und Neid. Und so richtete er sich allmählich im Sattel auf und nahm eine selbstbewusstere Haltung ein. Dabei musste er plötzlich an Leon Battista Alberti denken. Die Gespräche mit ihm fehlten ihm, zumal in Momenten wie diesem. Er trat jetzt ganz so auf, wie es ihm sein alter Freund früher mehr als einmal empfohlen hatte: Er machte auf sich aufmerksam, anstatt sich zu verstecken. Lag es nur an der Kleidung? Oder daran, dass er sich als Günstling des Regenten betrachten durfte? Waren es die Aufträge, die sich jetzt einstellten? Oder hatte es einfach mit seiner Stimmung zu tun, die sich im Augenblick merklich verbesserte? Eigentlich gab es momentan nur noch einen Punkt, der sein Leben verdunkelte…
Ohne groß nachzudenken, lenkte Leonardo sein Pferd in Richtung des Kunsthandwerkerviertels auf der Südseite der Stadt, wo er die Werkstatt für Intarsien und Marketerien entdeckt hatte, in der Paolo arbeitete. Sorgsam wich er den Abfallhaufen mitten auf der Straße aus. Zwar wurde auch in Mailand wie in Florenz der Müll, der durch Türen und Fenster hinausgeworfen wurde, einmal im Monat abgeholt, aber die ärmeren Viertel wurden dabei gern ausgelassen.
Suchend spähte er durch das staubige Fenster in die Werkstatt, wo Paolo sofort auf ihn aufmerksam wurde. Er starrte Leonardo zunächst an, als sähe er einen Geist. Doch dann ließ er seine Arbeit ruhen und kam zu ihm heraus.
»Leonardo!« Paolo umarmte ihn freudig, machte aber gleich darauf einen schnellen, fast erschrockenen Schritt zurück, als fühle er sich ertappt. »Was machst du in Mailand?«, fragte er verwundert.
»Ich habe hier einen wichtigen Auftrag bekommen.« Leonardo war froh, dass er nicht zu lügen brauchte. »Ich werde wohl für die nächsten Monate hier gebunden sein.«
»Ich wusste schon, dass du deine bottega zugemacht hast. Aber ich hatte keine Ahnung, dass du nach Mailand
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