Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
höllische Pesthauch, der wie eine erstickende Decke über Mailand gelegen hatte. Die Scheiterhaufen wurden weggeräumt, und die Stadt leckte ihre Wunden.
Eines Morgens wurde energisch an Leonardos Tür geklopft. Er legte widerwillig Palette und Malstock beiseite und ging nachsehen, wer der Ruhestörer war.
»Ser Antonio de’ Capitani«, stellte sich der große, hagere Mann vor, der vor der Tür stand. Er hatte einen penibel gestutzten grauen Bart und trug einen schwarzen Rock mit dazu passendem Barett. »Mein Name sagt Ihnen nichts? Ich habe den Vertrag aufgesetzt, mit dem Sie sich verpflichten, ein Altarbild für die San Francesco Grande zu malen. Sie sind doch Meister da Vinci, darf ich annehmen?«
»Leonardo da Vinci ist mein Name, ja. Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Ich habe den Auftrag, mich nach dem Fortgang der Arbeiten zu erkundigen. Gestatten Sie mir, einen Blick auf die Tafel zu werfen?«
»Sind Sie denn Kunstsachverständiger?« Leonardo hatte nun einmal seine Vorbehalte gegen Notare und deren Sprachgebrauch.
»Ich bin durchaus in der Lage festzustellen, ob ein Werk vereinbarungsgemäß fertiggestellt wird oder nicht.«
»Die Pest hat Verzögerungen mit sich gebracht, aber die Tafel wird bald fertig sein. Wenn mein Wort nicht genügt, muss sich die Bruderschaft einen anderen Maler suchen.« Leonardo war drauf und dran, dem Mann die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
»Sie haben keinen so guten Ruf, was die Erfüllung Ihrer Verpflichtungen betrifft, Meister da Vinci.« Der Ton des Notars war eisig.
Leonardo holte tief Luft. » Dimmi , Ser Capitani, wie steht es mit der Erfüllung der Verpflichtungen seitens der Bruderschaft? Das Almosen, das mir bisher gezahlt wurde, reichte kaum dazu aus, das benötigte Material zu kaufen.«
»Darf ich Sie darauf hinweisen, Meister da Vinci, dass sich die Bruderschaft aus sehr begüterten Familien zusammensetzt, die…«
»Die damit reich geworden sind, dass sie möglichst viel einnehmen und möglichst wenig ausgeben, nehme ich an. Soweit ich weiß, warten auch die Brüder de Predis noch auf ihr Geld. Künstler müssen auch essen, Ser Capitani.«
»Möchten Sie, dass ich Ihre Worte genau so übermittle?«
»Sie können mit meinen Worten machen, was Sie wollen«, antwortete Leonardo, der selbst erstaunt war, dass er so ruhig blieb. »Aber in mein Haus lasse ich Sie nicht ein.«
Der Notar warf einen vielsagenden Blick an Leonardo vorbei nach drinnen. »Zu ärmlich für einen großen Künstler, Meister da Vinci?«
Leonardo schlug wortlos die Tür zu. Er hörte Capitani noch irgendetwas Unverständliches rufen und dann gehen.
Jetzt war Leonardo die Lust am Arbeiten vergangen. Er zog sich um und ging ins Freie.
Die Betriebsamkeit auf den Straßen war wieder zurückgekehrt. Es schien fast, als wäre nie etwas gewesen, als hätten die vielen Opfer des Schwarzen Todes keine Lücke gerissen. Zwar hatte fast jeder einen oder mehrere Angehörige, Freunde oder Bekannte verloren, aber allem Anschein nach wog das nicht so schwer. Das Leben ging wieder seinen gewohnten Gang, es wurde gearbeitet, gelacht und geschimpft.
Erleichterung, dachte Leonardo, das wird es sein. Die Überlebenden waren erleichtert, dass sie noch einmal davongekommen waren. Und sie gaben sich betont geschäftig und taten, als sei alles ganz normal, weil sie bemüht waren, trübe Gedanken um die, die weniger Glück gehabt hatten, weitestmöglich zu verdrängen.
Leonardo lenkte seine Schritte Richtung Castello Sforzesco. Er wollte um eine Unterredung mit dem Regenten ersuchen und vorfühlen, ob er nicht vielleicht einen Auftrag für ihn hatte und er womöglich wieder im Schloss einziehen durfte.
Zu seiner Überraschung, ließ Il Moro ihn auf der Stelle zu sich in sein Arbeitszimmer bringen.
»Ich bin froh, dass du nicht angesteckt worden bist«, sagte er zur Begrüßung. »Andere hatten weniger Glück. Aber was führt dich zu mir?«
»Tja, ich…« Leonardo wusste nicht recht, wie er sein Anliegen vorbringen sollte.
Ungeduldig fragte Sforza: »Fehlt es an Geld?«
Leonardo zuckte zusammen. »Ich hätte genug, wenn die Bruderschaft mich vertragsgemäß bezahlt hätte.«
Zu seiner Verblüffung nickte Sforza beipflichtend. »Evangelista de Predis hat mir von dem Problem berichtet.« Sforza lehnte sich in seinem thronartigen Sessel am Schreibtisch zurück. »Aber vielleicht hätte ich Verwendung für deine Madonna, die ja wohl, wie ich annehme, so gut wie vollendet ist. Wie gefällt dir übrigens
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