Der Mammutfriedhof
Hunger bedroht wurden, schickte er uns Schwärme von Fischen und ließ uns in Völlerei schwelgen!«
»Sklutur«, murmelte Elivara leise.
»Ja, Sklutur, den wir den Beinernen nennen«, bestätigte Jenersen. »Er hütete uns wie seine Kinder.«
Mythor hatte nachdenklich zugehört. Ihm war aufgefallen, dass Jenersen von dem Beinernen immer nur so sprach, als ob er eine Erscheinung aus einer längst vergangenen Zeit sei.
»Wenn es so ist, wie du sagst, wie konnte es dann geschehen, dass die Sasgen ungehindert über eure Stadt herfallen und sie fast ganz zerstören konnten?« fragte Mythor.
»Du hast recht«, antwortete ihm Jenersen. »Das lässt sich nur schwer verstehen. Wir wissen es auch nicht. Wir haben keine Erklärung dafür. Schon seit einer gewissen Zeit können wir uns nicht mehr auf Sklutur verlassen. Früher geschah es von Zeit zu Zeit, dass er seinen Sitz im Mammutfriedhof verließ und die Stadt besuchte. Er stand nächtelang auf den letzten Stegen weit draußen im Meer und starrte wortlos in die Ferne. Doch schon seit ungefähr einem halben Jahr hat ihn niemand mehr gesehen. Etwa seit dieser Zeit blieb auch seine Hilfe für uns aus.«
Mythor sah Elivara nachdenklich an.
»Kommen wir zu spät?« fragte Elivara leise. »War unsere Reise umsonst?«
»Warum schickt ihr keine Abordnung zu ihm?« fragte Mythor den Fürsten. »Habt ihr nie versucht, ihn zu sprechen?«
Jenersen sprang erregt auf. Auch die Greise neben ihm, die bisher ruhig und in sich zusammengesunken zugehört hatten, strafften ihre eingefallenen Körper und blickten erschrocken auf den Frager. Ein Raunen und Tuscheln lief durch die Hütte.
»Niemand darf den Mammutfriedhof betreten!« rief Jenersen mit lauter Stimme. Die Wände der Hütte warfen die Worte als Echo zurück. »Das ist das einzige Gebot, das der Beinerne erlassen hat. Der sofortige Tod ist die Strafe für die Missachtung dieser Anordnung!«
Einer der Greise neben dem Fürsten erhob sich und ging mit zögernden Schritten auf Mythor zu. Dicht vor ihm blieb er stehen.
»Ich ahne, warum ihr gekommen seid«, begann er mit brüchiger Stimme. »Ihr hofft, dass ihr die Macht des Beinernen für die bedrohte Stadt Nyrngor erlangen könnt. Sklutur soll euch helfen, wie er Urguth hilft oder geholfen hat. Es ist euer gutes Recht, so etwas zu wünschen. Aber niemals dürft ihr das Verbot Skluturs übertreten. Auch uns hat er geholfen, ohne dass wir ihn darum gebeten haben.«
»Es gibt ein Abkommen mit dem Beinernen«, mischte sich Elivara ein. »Sklutur hat meinem Vater das Versprechen gegeben, ihm beizustehen, wenn er seine Hilfe benötigt. Wir sind hier, um an dieses Versprechen zu appellieren!«
»Mag sein.« Der Greis zuckte mit den dünnen Achseln und wandte sich ab. Mit schlurfenden Schritten ging er zurück zu seinem Schemel. Erschöpft ließ er sich darauf nieder. »Mag alles sein«, sagte er dort noch einmal.
»Der Mammutfriedhof ist verbotenes Gebiet«, sagte Jenersen hart. »In der Pfahlstadt seid ihr willkommen und werdet bewirtet wie die Fürsten. Ihr habt die Stadt gerettet, unsere Dankbarkeit ist euch gewiss. Aber wenn ihr es wagt, euch über das Verbot hinwegzusetzen, seid ihr Feinde.«
Er drehte sich auf der Stelle um und verließ die Hütte des Ratschlags. Die Greise folgten ihm, danach die zahlreichen Zuschauer. Die fünf aus Nyrngor blieben allein zurück.
*
Mythor löste sich aus der Umarmung Elivaras und lehnte sich zurück. Er blickte in den funkelnden Sternenhimmel über sich und ließ den milden Nachtwind über seine Haut streichen. Unter sich hörte er das leise Plätschern des Meeres, wenn die Wellen gegen die fahlen Stützpfähle schlugen.
»Oft wünsche ich mir, du wärest nicht der Sohn des Lichtboten«, flüsterte Elivara und ließ ihre Hand über Mythors Körper gleiten. »Vor allem in Augenblicken wie diesem.«
Mythor schloss die Augen und schwieg. Er achtete weniger auf die Worte der Frau als vielmehr auf die sanften Berührungen ihrer Hand.
»Manchmal wünsche ich mir, dass wir uns in ein Land zurückziehen könnten, in dem es nur uns beide gibt und nur Momente unbeschreiblichen Glücks«, fuhr Elivara fort. »Ich wünsche es mir und ersehne es brennend, und schon im nächsten Augenblick schäme ich mich dafür. Ich schäme mich dafür, dass ich nur an mich denke und dabei mein Volk vergesse, das von den Mächten der Schattenzone geknechtet wird.«
Leises Stimmengemurmel und ein kaum merkliches Schwanken des Steges unterbrachen Elivara. Sie
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