Der Mammutfriedhof
setzte sich auf und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Irgendwo in ihrer Nähe bewegte sich jemand.
»Ich glaube, Jenersen lässt uns überwachen«, flüsterte die Königin. »Selbst in Augenblicken wie diesen lässt er uns nicht unbeobachtet. Er fürchtet, dass du trotz des Verbots den Mammutfriedhof betreten willst.«
»Ganz unrecht hat er damit nicht«, antwortete Mythor leise.
»Vielleicht aber sind es auch Aufpasser, die Kalathee für dich geworben hat«, fügte Elivara etwas spöttisch hinzu. »In diesem Moment erduldet sie wahrscheinlich schlimme Qualen, denn sie weiß, dass wir beide allein sind.«
»Was meinst du damit?« fragte Mythor und schlug die Augen auf.
Elivara zuckte mit den Schultern und verzog schnippisch ihren Mund. »Oh, nichts Besonderes«, sagte sie. »Ich beobachte nur sorgfältig und mache mir so meine Gedanken. In den Augen einer Frau kann man meistens besser lesen und mehr über ihre Wünsche erfahren als durch die Worte, die sie spricht.«
Mythor sah Elivara lange an. Er blickte tief in ihre bernsteinfarbenen Augen. Ihr voller Mund öffnete sich leicht, und ihre weißen Zähne leuchteten hell hinter den glänzenden Lippen.
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Mythor. Er zog Elivara dicht an sich heran. Ihr Körper gab nach, und sie schmiegte sich an ihn.
*
Die Pfahlstadt Urguth lag in tiefem Schlaf. Finsternis lag über der Stadt. Von Westen her zogen schwarze Wolken über den Himmel und verdunkelten auch noch das schwache Licht der Sterne. Vereinzelte Fackeln erleuchteten nur unvollkommen die verlassenen Stege.
Auf der Meerseite patrouillierten Wachen. Die Bewohner der Stadt hatten aus dem Überfall der Sasgen gelernt und würden künftig wachsamer und vorsichtiger sein. Schon am vergangenen Abend hatten sie begonnen, Urguth mit einer Befestigung zu umgeben. Sie hatten akzeptiert, dass auf ihren alten Schutz, auf Sklutur den Beinernen, kein Verlass mehr war. Künftig würden sie auf sich selbst gestellt sein und für sich selbst sorgen müssen.
In die dunklen Schatten der Fischerhütten presste sich eine vermummte Gestalt. Sie war mit einer langen schwarzen Kutte bekleidet, der Kopf war unter einer Kapuze verborgen. Sie schlich vorsichtig und geduckt. Jeden Schatten zwischen den niedrigen Hütten nutzte sie aus, um sich zu verbergen.
Vor der Hütte des Ratschlags verharrte sie. Sie drückte sich gegen die festen Pfähle der Wand und sah sich vorsichtig nach allen Seiten hin um. Dann glitt sie plötzlich auf die Tür zu und war schon im nächsten Augenblick im Inneren der Hütte verschwunden.
Das Feuer in der Mitte des Raumes war niedergebrannt. Weiße Asche bedeckte in einer dünnen Schicht die noch warme Glut. Um das Feuer herum lagen fünf längliche Bündel. Die Bündel atmeten, eins schnarchte rasselnd.
Langsam bewegte sich die vermummte Gestalt auf die Schlafenden zu. Sie beugte sich über die Gesichter jedes einzelnen und betrachtete sie. Schließlich blieb sie stehen.
»Mythor!« flüsterte die Gestalt und berührte das Bündel vor sich leicht mit der Hand.
Das Atmen des Schlafenden wurde unregelmäßig. Er bewegte sich und zuckte mit der Hand.
»Mythor, wach auf!« flüsterte die Gestalt noch einmal.
Im nächsten Augenblick war Mythor hellwach. Er richtete sich auf und starrte die vermummte Gestalt über sich an.
»Folge mir«, sagte die Gestalt. Sie fasste Mythor an der Hand und zog ihn hoch. »Aber sei leise!«
Mythor fuhr sich mit der Hand über die Augen, um sich von den Resten des tiefen Schlafes zu befreien, die ihn noch gefangenhielten und seine Sinne benebelten.
Die vermummte Gestalt drängte. »Schnell, wir haben nicht viel Zeit!«
Irgendetwas in Mythor warnte ihn, zu folgen. Er zögerte, und seine Hand tastete nach dem Gläsernen Schwert im Gürtel. Der Griff schmiegte sich warm in seine Handfläche und strahlte ein Gefühl der Beruhigung aus.
»Wer bist du?« fragte Mythor ebenso leise wie sein seltsames Gegenüber. Er hatte noch nicht einmal unterscheiden können, ob es sich bei der Gestalt um eine Frau oder einen Mann handelte. Die tonlose Stimme gab darüber keinen Aufschluss .
»Später«, flüsterte die Gestalt. Sie griff wieder nach seiner Hand, um ihn mit sich zu ziehen. Dabei spürte sie, dass Mythors Hand auf dem Schwert lag. Erschrocken wich sie zurück. »Ich bin ein Freund«, sagte sie schnell. »Lass die Waffe stecken und folge mir, ehe es zu spät ist. Du willst zu dem Beinernen, ich kann dir helfen!«
Der Hinweis auf
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