Der Mann auf dem Balkon
Martin Beck bekümmert an und sagte: »Er ist noch so klein. Er hat einen so geringen Wortschatz. Ich kann mir nicht vorstellen, daß et den Mann beschreiben kann.«
Frau Oskarsson schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »wenn nicht irgendwas besonders Auffälliges an ihm ist.«
Herr Oskarsson fuhr fort: »Hätte er irgendeine Uniform angehabt, so hätte Bosse ihn sicher Onkel Form genannt. Aber sonst? Kinder wundern sich ja nicht so leicht über irgend etwas. Und selbst wenn Bosse einen Burschen mit grünen Haaren und roten Augen und drei Beinen getroffen hätte, wäre er nicht auf die Idee gekommen, daß das etwas Besonderes ist.«
Martin Beck nickte. »Vielleicht hatte er eine Uniform an«, sagte er, »oder etwas anderes, woran Bosse sich erinnern kann. Vielleicht geht es besser, wenn Sie mit ihm allein sprechen.«
Frau Oskarsson stand auf und zuckte die Schultern. »Gerne«, sagte sie, »ich will es versuchen.«
Sie ließ die Tür einen Spalt breit offen, damit Martin Beck ihre Unterhaltung mit dem Kind hören konnte. Nach zwanzig Minuten kam sie zurück. Es war ihr nicht geglückt, aus dem Jungen noch mehr herauszuholen.
»Können wir nun nicht reisen?« fragte sie ängstlich. »Ich meine, muß Bosse…?« Sie unterbrach sich und fuhr fort: »Und Lena?«
»Natürlich können Sie machen, was Sie wollen«, sagte Martin Beck und stand auf. Er dankte und gab ihr und ihrem Mann die Hand. Als er gehen wollte, kam Bosse angestürzt und schlang die Arme um seine Knie.
»Nich gehen. Du da sitz. Du reden mit Papa un Bosse.«
Martin Beck versuchte, sich loszumachen, aber der Junge hielt ihn fest, und er wollte dem Kerlchen nicht weh tun. Er griff in die Hosentasche, holte ein Fünfzig-Öre-Stück heraus und sah die Mutter fragend an. Sie nickte.
»Hier, Bosse«, sagte er und zeigte ihm die Münze.
Bosse ließ sofort los, nahm das Fünfzig-Öre-Stück und sagte: »Bosse Eis kaufen. Bosse viel Geld. Eis kaufen.«
Er sprang vor Martin Beck hinaus in den Flur und griff nach seiner kleinen Jacke, die an einem niedrigen Haken neben der Wohnungstür hing. Er wühlte in der Jackentasche herum.
»Bosse viel Geld«, sagte er und hielt ein ärmliches Fünf-Öre-Stück in die Höhe. Martin Beck öffnete die Wohnungstür, drehte sich um und streckte Bosse die Hand hin.
Der kleine Kerl stand da mit der Jacke im Arm. Als er die Hand aus der Tasche herausholte, segelte ein kleines Stück weißes Papier auf den Fußboden. Als Martin Beck sich bückte, um es aufzuheben, rief der Junge: »Bosse Bon, Bosse Bon von Onkel.«
Martin Beck betrachtete den Gegenstand in seiner Hand. Es war ein ganz gewöhnlicher Straßenbahnfahrschein.
18
Verschiedenes war an diesem Freitagmorgen, dem 16. Juni 1967, bereits geschehen.
Die Polizei veröffentlichte eine Personenbeschreibung, die den Nachteil hatte, auf tausend unbescholtene Bürger zu passen. Vielleicht auf noch mehr.
Rolf Evert Lundgren hatte die Sache überschlafen und wollte nun einen Kuhhandel abschließen. Wenn die Polizei ein Auge zudrückte, würde er sich an den Ermittlungsarbeiten beteiligen und »weitere Aufklärungen« geben - welcher Art die nun auch immer sein mochten. Er bekam eine kühle Absage, versank in Grübeleien und bat schließlich von sich aus um einen Rechtsanwalt.
Einer aus der Ermittlungsabteilung wies daraufhin, daß Lundgren immer noch kein Alibi für den Abend des Mordes im Vanadislunden habe, und zog seine Glaubwürdigkeit als Zeuge in Zweifel. Dies führte dazu, daß Gunvald Larsson eine Frau in peinlichste Verlegenheit brachte und daß eine andere Frau Lennart Kollberg möglicherweise noch verlegener machte.
Gunvald Larsson wählte eine Telefonnummer in Vasastaden.
»Ja, hier Disponent Jansson.«
»Guten Tag. Hier ist die Kriminalpolizei, Erster Kriminalassistent Larsson.«
»Ja, bitte?«
»Könnte ich mit ihrer Tochter sprechen, mit Majken Jansson?«
»Einen Augenblick. Wir sitzen gerade beim Frühstück. Majken!«
»Ja, hallo, hier ist Majken Jansson.« Die Stimme war hell und kultiviert.
»Polizei. Erster Kriminalassistent Larsson.«
»Ja?«
»Sie haben angegeben, daß Sie am Abend des 9. Juni im Vanadis-lunden Luft geschnappt haben.«
»Jaa.«
»Was hatten Sie an, als Sie Luft schnappen gingen?«
»Was ich anhatte? Tja, lassen Sie mich überlegen… ein schwarz-weißes Cocktailkleid.«
»Und außerdem?«
»Sandalen.«
»Ja, ja, und außerdem?«
»Nichts. Ruhig, Papa, er fragt nur, was ich…«
»Nichts? Hatten Sie nicht
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