Der Mann auf dem Balkon
Ausländer handeln. Es können ebensogut zwei verschiedene Täter sein. Die Presse hat alle Einzelheiten über den ersten Mord gebracht - das kann einer gelesen und prompt nachgemacht haben.«
»Dagegen sprechen zu viele Tatsachen«, meinte Melander. »Lokalkenntnis, die traumwandlerische Sicherheit der Tatausführung, die Wahl von Ort und Zeit, das Absurde, daß wir nach zwei Morden und sieben Ermittlungstagen nicht einmal einen ernsthaft Verdächtigen haben, wenn wir diesen Eriksson außer Betracht lassen.
Gegen die Möglichkeit eines Nachahmungsmordes spricht die Sache mit den Schlüpfern der Mädchen. Dieses Detail wurde der Presse nicht bekanntgegeben.«
»Ich kann mir trotzdem andere Erklärungen denken«, beharrte Gunvald Larsson.
»Ich fürchte, das ist Wunschdenken«, murmelte Melander und zündete sich die Pfeife an.
»Ich leider auch«, stimmte Kollberg zu und schüttelte sich. »Vielleicht ist es Wunschdenken, Gunvald, trotzdem hoffe ich von Herzen, daß du recht hast. Denn anderenfalls…«
»Anderenfalls«, sagte Melander, »haben wir nicht das geringste in der Hand, woran wir uns halten können. Die einzige Chance, den Mörder zu fassen, wäre eine Verhaftung auf frischer Tat, oder…«
Kollberg und Gunvald Larsson beendeten mit Schaudern jeder für sich den angefangenen Satz, den Melander nach einer kurzen Pause selber zu Ende brachte.
»… oder er mordet immer wieder mit der gleichen traumwandleri-schen Sicherheit.
So lange, bis wir ihn durch einen Zufall erwischen.«
»Entsetzlich«, sagte Gunvald Larsson.
»Was steht denn sonst noch in dem Papier?« fragte Kollberg.
»Das übliche«, antwortete Melander, »eine Masse sich widersprechender Spekulationen. Er kann übersexuell veranlagt sein, oder er hat einen fast rudimentären Geschlechtstrieb. Letzteres wird für das Wahrscheinlichere gehalten. Aber es gibt auch Beispiele für das Gegenteil.« Er legte das Gutachten hin und fuhr fort: »Auch wenn er Jetzt hier vor uns stünde, hätten wir nichts, was ihn mit dem Verbrechen in Zusammenhang bringt. Das ist euch ja wohl klar. Wir haben nur ein paar mehr als fragwürdige Fußabdrücke aus dem Tantolunden. Und der einzige Beweis, daß die Person, hinter der wir her sind, auch wirklich ein Mann ist, sind eine Unmenge von Spermatozoen, die wir an beiden Tatorten auf der Erde gefunden haben.«
»Wenn wir ihn nicht in unserer Kartei haben, würde uns nicht mal ein vollständiger Satz Fingerabdrücke etwas nützen«, warf Kollberg ein.
»Eben«, stimmte Melander zu.
»Aber wir haben einen Zeugen«, sagte Gunvald Larsson. »Der Räuber hat ihn gesehen.«
»Ob wir uns darauf verlassen können…« gab Melander zu bedenken.
»Kannst du nicht zur Abwechslung mal was Aufmunterndes sagen?« entgegnete Kollberg.
Melander gab keine Antwort, und sie versanken in Schweigen. Sie hörten im Zimmer nebenan die Telefone klingeln und Rönn und einen anderen antworten.
»Wie hat dir das Mädchen gefallen?« fragte Gunvald Larsson plötzlich.
»Gut«, antwortete Kollberg.
Im gleichen Augenblick mußte er an noch eine böse Sache den-ken. Er wußte auf einmal, an wen Lisbeth Hedvig Maria Karlström ihn erinnert hatte. Nicht an seine Frau, ganz und gar nicht. Sie erinnerte ihn auf unheilschwangere Art an eine junge Frau, die er niemals als Lebende gekannt hatte, die aber noch lange nach ihrem Tod seine Gedanken und sein Handeln bestimmt hatte. Er hatte sie nur einmal gesehen. Im Leichenschauhaus von Motala. An einem Sommertag vor drei Jahren.
Er zuckte unwillig die Schultern.
Eine Viertelstunde später kam Martin Beck mit dem Fahrschein.
19
»Was ist das«, fragte Kollberg.
»Ein Bon«, antwortete Martin Beck.
Kollberg betrachtete den zerknitterten Fahrschein, der vor ihm au dem Tisch lag.
»Ein U-Bahn-Fahrschein«, stellte er fest. »Was ist damit? Wenn du Fahrkosten erstattet haben willst, mußt du zur Kasse gehen.«
»Bosse, unser dreijähriger Zeuge, hat ihn von dem Onkel geschenkt bekommen, den er und Annika kurz vor deren Tod im Tantolunden getroffen haben«, sagte Martin Beck.
Melander schloß die Tür zum Aktenschrank und kam zu ihnen hinüber. Kollberg wandte den Kopf und starrte Martin Beck an.
»Kurz bevor der Onkel sie erwürgt hat, meinst du«, sagte er.
»Kann sein«, antwortete Martin Beck. »Die Frage ist: Inwieweit kann uns dieser Fahrschein helfen?«
»Vielleicht Fingerabdrücke«, meinte Kollberg, »wir haben ja die berühmte Ninhydrinmethode.«
Melander beugte sich vor und
Weitere Kostenlose Bücher