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Der Mann auf dem blauen Fahrrad

Der Mann auf dem blauen Fahrrad

Titel: Der Mann auf dem blauen Fahrrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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tiefer in die Dämmerung des Raums hinein. Hin und wieder verstummt das hartnäckige Klappern der Kachelofenluken. Dann wird es ganz still. Und er kann das immer brutalere Geräusch des Windes hören, der da draußen an den Bäumen zerrt, ja, manchmal auch etwas wie schwere Wellen. Gegen eine Mole? Gegen einen Pier? Mit einem Schaudern wird Janne bewusst, wie nahe er diesem großen dunklen See mit all seinen verborgenen Untiefen und entlaubten Inseln da draußen sein muss. Von der Vorderseite des Herrenhauses aus war er nicht zu sehen gewesen. Mit ein paar unruhigen Schritten hin und her – als wolle er etwa verschiedene Persönlichkeiten ausprobieren, um eine zu finden, die zu ihm passen könnte – versucht er, das Gefühl von Zeit und Ort wiederherzustellen.
    Aber gleich hat er sich wieder hingesetzt.
    Dieser Raum, in den man ihn aus ziemlich unerklärlichen Gründen gebeten hatte, war größer als erwartet, und der Steinway-Flügel in der Ecke war mit einigen Gegenständen geschmückt, die auf dem grünen Seidentuch über dem geschlossenen Deckel standen. Das Tuch hatte ein türkisches Muster. Zwei solide Kandelaber darauf, die in ihrer schweren Pracht auf unbestimmte Art russisch anmuteten, würden es noch schwerer machen, diesen überladenen Deckel zu öffnen. Aber vielleicht hatte das schon lange niemand mehr versucht? Sie mussten aus Silber sein, und zwischen ihnen stand eine große chinesische Vase. War sie wirklich chinesisch, oder tat sie nur so? Wie tut man so, als sei man chinesisch? Wie tut man überhaupt so, als sei man etwas, was man nicht ist? Ein dämlicher Gedanke tauchte in ihm auf: Vielleicht muss man glauben, jemand Besonderes zu sein, um so zu tun? Er verwarf diese Idee. Sie erschien ihm doch etwas zu kompliziert.
    Aber was erwartete man sich von ihm? Warum sollte er hier sitzen und warten? Musste er wirklich das eine oder andere vorgeben? Wäre es nicht vielleicht viel praktischer gewesen, von vornherein zu erklären, dass er als Repräsentant von Electrolux unterwegs war, um das Haushaltsgerät Assistent an mehr oder weniger maschinenbedürftige Kunden zu verscherbeln?
    Warum nicht einfach eine so selbstverständliche Sache erklären, statt jetzt hier zu sitzen wie ein Depp? Warum fiel es ihm überhaupt so schwer, sich zu erklären? Lag hier vielleicht ein merkwürdiges Missverständnis vor? Er hatte das unangenehme Gefühl, mit jeder Minute, in der er nichts dagegen unternahm, würde dieses Missverständnis größer werden. Und vermutlich in eine Katastrophe münden.
    Im Licht der prächtigen, jetzt elektrifizierten Kronleuchter traten die in Silber gerahmten Porträts auf dem Flügeldeckel sehr deutlich hervor. Fast überdeutlich. Ein paar Damen in Sepia, mit Broschen an den hochgeschlossenen Blusen. Keine von ihnen war wirklich schön. Sie sahen alle sehr streng aus. Und sie starrten direkt in die Kamera. Aber das musste man ja bei den damaligen Belichtungszeiten tun. Das wusste Janne. Ein junges Mädchen in einem hellen Kleid: Sie kann nicht viel älter sein als siebzehn, dachte Janne.
    Bestimmt war sie tot. Sie war jung gestorben. Wie konnte er das wissen? Diejenigen, die jung sterben, haben einen besonderen Gesichtsausdruck, dachte er.
    Er entschied sich dafür, dass sie Irene heißen sollte. Irgendwie musste sie ja heißen. Das arme Mädchen.
    Tatsächlich war es so, dass diese Familienfotos aus verschiedenen Zeiten stammten, ungefähr von der Jahrhundertwende bis in diese fünfziger Jahre, was auch die Kleidung der Leute und die fotografische Technik zeigten. Die Bilder standen so eng beieinander, dass man sie etwas verrücken musste, sozusagen in der Sammlung blättern, um alles zu sehen, was man sehen wollte. Ein Bild stach ein wenig von den anderen ab. Der Herr in dem grauen Anzug, offenbar etwas feierlich angesichts der Aufnahme und vielleicht ein wenig amüsiert ob der Miene, die er für den Fotografen aufsetzte, hätte ein Zwillingsbruder von ihm selbst, Jan Viktor, sein können. Nur war er sorgfältiger gekleidet, hübscherer Kragen, besser gebundene Fliege.
    Das ist eine recht merkwürdige Ähnlichkeit, dachte Janne. Aber so etwas kommt vor. Sein Vater hatte ihm einmal aus dem Allers Familjejournal vorgelesen, dass alle Menschen einen Doppelgänger hätten. Eine seltsame Theorie, die irgendein Exzentriker aufgestellt hatte. Aber vielleicht war es ja so. Die Natur konnte doch nicht beliebig viele Gesichter für all diese neuen Menschen bereithalten, die immerzu geboren

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