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Der Mann auf dem blauen Fahrrad

Der Mann auf dem blauen Fahrrad

Titel: Der Mann auf dem blauen Fahrrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Gustafsson
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selbst es vergessen hat. Tatsächlich bewundernswert ist das Gedächtnis, das den Dingen eigen ist! Wie sorgfältig achten doch die Schrauben und Muttern darauf, in welcher alten Blechdose im Regal sie zu Hause sind! Solange wir sie nicht mit unserem schlechteren Gedächtnis stören, wissen sie immer, wohin sie gehören. Oder wie Claes Friberg zu sagen pflegte: Es gibt nichts Brutaleres als eine Tatsache.

In der zunehmenden Dämmerung
des Raums

    A uf dem kleinen Tisch, allem Anschein nach eigentlich ein Nähtisch, lag ein Kreuzworträtsel. Wenn Janne sich nicht völlig täuschte, war es aus der Samstagsausgabe der Vestmanlands Läns Tidning herausgerissen worden. Jemand hatte angefangen, es mit einem Tintenstift in ordentlichen Druckbuchstaben auszufüllen. Aber das meiste schien unvollendet:

    Janne überlegte einen Moment, ob er möglicherweise die Arbeit fortsetzen sollte, wo jemand anders sie abgebrochen hatte. Hier gab es beispielsweise ein waagerechtes Wort mit sechs Buchstaben, das er meinte, gefunden zu haben: Vorrichtung, die die Lichtstärke in einem Fotoapparat bestimmt. Das musste ja heißen:

    Es war nicht so schwer zu erraten. Besonders wenn man eigentlich ein Fotograf war und nicht ein Hausierer mit viel zu schweren und unförmigen Haushaltsgeräten. Und das würde dann ergeben:

    Aber vielleicht war es das Beste, auf das Ausfüllen zu verzichten. Er konnte keinen passenden Stift entdecken, und außerdem hatte er sich schon zu weit auf fremdes Terrain vorgewagt. Vorsichtig legte er das Kreuzworträtsel wieder dorthin zurück, wo er es gefunden hatte. Er streckte seine leicht schmerzenden Beine aus und legte die Füße auf den angenehmen Schemel, den jemand aufmerksamerweise in ihren Weg gestellt hatte, zog das Schubfach des Nähtischs auf und stellte, nicht ganz unerwartet, fest, dass es Nähzeug enthielt. Er schob das Schubfach wieder zu und lauschte aufmerksam auf irgendein Geräusch, das darauf hindeuten konnte, dass jemand auf dem Weg hierher war, um sich um sein Anliegen zu kümmern.
    Aber was war sein Anliegen? Auf der Allee war es ihm doch noch darum gegangen, ein Assistent-Haushaltsgerät zu verkaufen. Aber jetzt hatte sich etwas verändert.
    Was also war eigentlich sein Anliegen? So viel stand jetzt jedenfalls fest: Es galt, in diesem seltsamen Haus so schnell wie möglich einen vernünftigen Menschen zu finden – einen einzigen, aber vernünftigen –, der ihm helfen würde, zum Bahnhof zu gelangen. Er bezweifelte, dass er mit diesem hartnäckigen Schmerz, der immer deutlicher in beiden Handgelenken summte, bis nach Kolbäck würde radeln können.
    War es so? Auch das bezweifelte er. Die ganze Fahrt nach Kolbäck und möglicherweise weiter mit dem letzten Schienenbus nach Hause zu seiner wenig vertrauensvollen Frau, die nichts anderes als Verachtung und Vorwürfe für ihn übrig haben würde, schien in diesem Moment genauso sinnlos wie alles andere.
    In diesem Augenblick hatte er überhaupt kein Anliegen. Und damit war er frei. Vollständig frei. Dieser Gedanke löste in ihm ein unangenehmes Gefühl von Schwindel aus, ungefähr so, als hätte er sich an einem atemberaubenden Abgrund ein wenig zu weit über das Geländer gelehnt.
    In einer Art Panik streckte sich Janne über den Tisch und griff erneut das oberste Buch. Euphrosyne . Der Umschlag, hellblau, war mit einer stilvollen Vignette verziert. Ein Kupferstich, der eine antike Göttin zeigte. Vielleicht eine Siegesgöttin? Sie schien aus irgendeinem Grund zu triumphieren. Sie befand sich in Bewegung, in einer Art Drehung nach rechts, und die Falten ihres langen, antiken Gewandes folgten dieser Drehung nur zögernd. Eine schöne Frau. Natürlich nicht nur das, auch wenn dies einem vielleicht als erstes auffiel. Möglicherweise eine Göttin oder eine andere mythologische Gestalt. Das gab es doch? Verkörperungen? Morpheus war eine Verkörperung – das hatte Pastor Fors aus Sörstafors kürzlich im Zusammenhang mit dem Tod erzählt. Janne schlug den Band aufs Geratewohl auf, fand Gedichtzeilen hier und Gedichtzeilen da, und blieb an einigen hängen, die seine Aufmerksamkeit auf besondere Weise weckten. Vielleicht weil sie ihm zugleich begreiflich und unbegreiflich erschienen.
    Unter dem grünen Gewölbe der Bäume
    so bald, so unwiderstehlich verronnen
    an diesem hohen Tag, dem letzten Tag,
    ihres Kleides weißes Licht …
    Genau hier verliert Janne den Faden, erhebt sich aus dem so einladenden Sessel und tastet sich zögernden Schrittes

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